Naomi Tereza
Salmon, Christian Boltanski
und die Theorie der Einnerung von Aleida Assmann
von Johanna Diehl, Sommer 2004
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Asservate – Naomi Tereza Salmon
- Gedanken von Aleida Assmann zu Asservate
von Naomi Tereza Salmon
- Gemeinsame Aspekte bei Christian
Boltanski und Naomi Tereza Salmon
- Eine andere Form des Gedenkens
Neben Erinnerungsmalen und anderen Speicherungsformen, kann bildende
Kunst eigene Möglichkeiten finden, um Erinnerung und Gedenken zu
befördern. Die Künstler Naomi Tereza Salmon und Christian
Boltanski denken die mediale Vermittlung des Holocaust mit und setzen
sich mit den Verarbeitungsmustern und Assoziationen des Betrachters
auseinander.
Asservate – Naomi Tereza Salmon
Naomi Tereza Salmon ist 1965 in Jerusalem geboren und hat dort Fotografie
am »Hadassa College« studiert. Seit 1990 lebt sie in Israel
und Deutschland. Sie beschäftigt sich in ihren Werken, trotz der
zeitlichen Distanz, mit dem Holocaust. Für sie gilt, wie auch für
andere Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind: »Not
having been ›there‹ but still being shaped by the holocaust.«(1)
Hier wird nur ihre Serie Asservate vorgestellt.(2)
1989 bekam Salmon den Auftrag, eine Anzahl von Relikten aus dem Holocaust-Archiv
in Yad Vashem in Jerusalem zwecks einer Registrierung für die museologische
Sammlung zu fotografieren. Yad Vashem ist die zentrale Gedenkstätte
des Staates Israel, in der unter anderem Objekte, die in direktem Zusammenhang
mit den Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus stehen, gesammelt
und aufbewahrt werden. Über die Herkunft der Relikte gibt es unterschiedliche
Informationen. Von einigen weiß man, aus welchem Konzentrationslager
oder Ghetto, aus welcher Ortschaft, Region oder aus welchem Land sie
stammen. Es ist allerdings kaum überliefert, wer sie geborgen,
verwahrt und übergeben hat.
Salmons Auftrag bestand darin, dokumentarische Sachportraits von diesen
Gegenständen anzufertigen, die später als Kontaktabzüge
auf die jeweiligen Karteikarten geklebt werden sollten. Die fotografische
Arbeit, die rein archivarisch begonnen hatte, wurde für Salmon
zu einer künstlerischen Aufgabe, zu einer Praxis des Gedenkens.
Da jeder Gegenstand als Erinnerungsspur für die Existenz eines
Menschen steht, versuchte sie, sich als Fotografin so unsichtbar wie
möglich zu machen. Sie nahm die Objekte isoliert vor weißem
Grund auf, um sie ganz konkret, als ›Ding an sich‹, zu zeigen
und bemühte sich um eine möglichst klinisch reine Dokumentation.
Die erste Ausstellung mit Schwarz-Weiß-Fotografien (Silbergelatine-Prints),
die sie als Tableaus anordnete, präsentierte sie 1994 in der Galerie
Schlieper, die in einer ehemaligen Synagoge in Neustadtgödens untergebracht
ist.(3)
Ein Jahr später entstand ein Katalog der Asservate in
Aktenordnerform. Die einzelnen Seiten sind herausnehmbar und durch einen
Aktenhefter gebunden. Auf den ersten Seiten des Katalogs ist ein einführender
Text, dann eine knappe Inhaltsangabe, in der verzeichnet ist, woher
die Relikte stammen, daraufhin folgen die Fotografien kommentarlos und
ohne Unterbrechung. Das einzige, was außerdem dort zu sehen ist,
sind gefundene Familienbilder, die zwischen die Abschnitte eingereiht
sind.
Gedanken von Aleida Assmann zu Asservate
von Naomi Tereza Salmon(4)
»›Da brauchst Du nicht mehr lang zu gehen‹, höre
ich in einer Ziegelbaracke des Stammlagers Ausschwitz einen deutschen
Besucher zu seiner Begleiterin sagen, ›da kommen nur noch Schuhe.‹«
so beginnt der Text, den die Kulturwissenschaftlerin Assmann über
die Asservate von Salmon geschrieben hat.
Diese unbedachte Äußerung eines Besuchers der Gedenkstätte
Auschwitz steht für ein Grundproblem: Mit welchen Gefühlen
und Einstellungen betritt man diesen Ort? Welche Sehgewohnheiten sind
hier angemessen oder unangemessen? Assmann führt an, dass der Mensch
dazu neige, sich gegen eine überkomplexe Umwelt mit Strategien
der Vereinfachung zu wappnen. Weil er vermutlich nicht überleben
könnte, wenn er nicht über diese sogenannte “Weltabkürzungskunst”
verfügen würde. »Tief in unseren Wahrnehmungsapparat
sind kulturelle Schematisierungen eingelassen, die uns (tiefer als uns
bewusst ist) gelehrt haben, im Teil das Ganze, im Beispiel die Reihe,
im Besonderen das Allgemeine zu erkennen. Wenn man einen Kubikmeter
Schuhe in Ausschwitz gesehen hat, kann man sich den Rest unschwer ergänzen.
Kann man sich ihn also ersparen?« Sie fügt an, dass diese
“Weltabkürzungskunst” an einem Ort wie Ausschwitz,
in dem jeder Schuh auf einen einzelnen Menschen hinweist, ethisch unhaltbar
ist. Doch der Besucher ist mit seinem ethischen Anspruch völlig
überfordert, wenn er vor einem unfassbaren Berg mit persönlichen
Gegenständen steht. Dies übersteigt sein Fassungsvermögen.
Die große Leistung von Salmon sieht Assmann darin, dass sie sich
genau mit diesen Schranken und Konventionen unserer Verarbeitungsmuster
auseinandersetzt und diese durchbricht. Indem sie jeden Schuh, jeden
Gegenstand einzeln fotografiert, bekommt dieser wieder eine eigene Existenz,
an der man Spuren eines Individuums erahnen kann. Der Einzelne ist somit
wieder wahrnehmbar und es ist eine Form von Gedenken möglich. Wichtig
ist auch, dass zwar jeder Schuh für einen einzelnen Menschen steht,
aber auch für die Millionen anderen Schuhe und damit Menschen,
die man wegen ihrer großen Anzahl nicht abbilden kann.
Die Relikte, die Salmon fotografiert hat, sind von der Bürokratie
des Todes gezeichnet: Sie waren im Besitz der Opfer und wurden dann
Beutestücke der Mörder. Die Objekte, die ebenso wahnhaft wie
effizient von den Nationalsozialisten gesammelt und sortiert wurden,
wurden oft wiederverwertet und zum Teil gezielt entweiht. So wurden
z.B. Torah-Rollen zu Portemonnaies, Aktentaschen und Kleidern weiterverarbeitet.
Es ging sogar soweit, dass sie diese heilige Schrift, die nach jüdischem
Zeremonialgesetz nicht den Boden berühren darf, also sprichwörtlich
nicht mit Füßen getreten werden darf, als Einlegesohlen verarbeitet
haben.
Assmann schreibt, dass Salmon mit ihrer archivarischen Arbeit wenigstens
die symbolische Vernichtung ein Stück weit rückgängig
macht. Die Objekte sind Beweise (Asservate) für das Schreckliche,
das passiert ist. Sie sind laut Assmann, »stille Zeugen des Verbrechens«
und »in ihrer Detailtreue kriminalistisches Indiz gegen Leugnung
und Vergessen.« Die nüchterne Art der Dokumentation hat für
Assmann die Qualität eines Archivs, das ein präzises Gedächtnis
gegen die Spurenverwischung der Täter aufbaut. Ausserdem erzeuge
die ständige Wiederholung der Motive (also immer wieder Rasierpinsel,
Kämme...) eine eigene Mnemotechnik, die die Gegenstände tief
in das Gedächtnis einprägten: »Tiefer als eine dramatische
Inszenierung kerbt sich die lakonische Wiederholung der Motive ins Gedächtnis
ein.«
Gemeinsame Aspekte bei Christian
Boltanski und Naomi Tereza Salmon
Vermittelte Erinnerung
Boltanski und Salmon sind beide nach dem Holocaust geboren worden. Sie
können sich somit nicht auf eigene Erinnerungen berufen. Alles
was sie wissen, wissen sie aus Erzählungen, aus Filmen, Büchern,
Fotografien usw. Beide versuchen gar nicht erst, den Holocaust subjektiv
oder direkt darzustellen, denn das wäre »schamlos«,
wie Boltanski gesagt hat. Sondern sie beschäftigen sich eher mit
dem, was sie heute vorfinden können und mit ihrer Erinnerung an
das, was andere erzählt haben. Also mit Erinnerungen an die vermittelten
Erinnerungen anderer. Das heißt, sie ziehen eine Grenze zwischen
der tatsächlichen Geschichte und der von ihnen nachempfundenen
Geschichte.
Schockbilder
Salmon und Boltanski sind gegen den Einsatz von Schockbildern. Sie bezweifeln,
dass die Photos der Gräueltaten, erfahrbar machen können,
was der Holocaust ist. Boltanski hat gesagt: »ich wollte niemals
direkt über die Shoah sprechen, ich habe nie Bilder darüber
gezeigt und möchte das auch nicht.« Beide versuchen, den
Betrachter auf eine weniger vordergründige Weise aufzuwühlen.
Roland Barthes hat einmal gesagt, dass Schockbilder schlicht stumm bleiben
und nicht aufschlüsselbar sind.
Assoziationen
Beide Künstler
arbeiten mit den Assoziationen des Betrachters. Sie sind sich über
das Vorwissen des Betrachters zu den Daten und Fakten des Holocaust
und damit über dessen Assoziationen bewusst. Denn alle, die nach
Ausschwitz geboren wurden, haben Ausschwitz in ihrer Geschichte. Wenn
man z.B. die Schilder an »The Missing House« (siehe
The Missing Hosuse von Christian Boltanski) sieht, dann kann man
erahnen, was mit denen passiert ist, die 1942 umgekommen sind. Oder
wenn man die Gegenstände sieht, die Salmon fotografiert hat, dann
hat man auch die bekannten Bilder von Kleiderhaufen und Schuhen im Kopf.
Und sie mildert diese Gedanken und Gefühle, die in einem entstehen,
durch keine subjektiven Gesten ab. Ihre Werke fungieren sozusagen als
»images stimuli«, als stimulierende Bilder. Man könnte
vielleicht sagen, dass die beiden das aktivieren, was Assmann den »Leidschatz
der Menschheit« nennt.
Präsenz einer Abwesenheit
Beide Künstler verweisen auf Subjekte, die fehlen, machen eine
Abwesenheit präsent. Das, was man heute vorfindet, ist außer
den Relikten der Vergangenheit, vor allem eine große Lücke,
die die ermordeten Menschen hinterlassen haben. Diese Lücke markieren
Salmon und Boltanski: In »The Missing House« markiert Boltanski
die Begrenzung des zerstörten Hauses und macht dadurch das Abwesende
konkret, wieder »sichtbar«. Die Gegenstände von Salmon
sind isoliert, vor weißem Hintergrund fotografiert und dieser
»aseptische Hintergrund besiegelt stumm die Zerstörung der
lebendigen Kontexte, aus denen die Relikte herausgerissen sind.«
(Assmann). Beide markieren die Tabula Rasa, die die Vernichtung hinterlassen
hat.
Spuren
Beide Künstler markieren Spuren. Während die Nazis versucht
haben, Spuren der Juden zu vernichen, indem sie die »Beute«
aus den Vernichtungslagern einschmolzen oder neu verwerteten, tun Salmon
und Boltanski jetzt genau das Gegenteil. Sie suchen, verfolgen und markieren
Spuren, machen diese wieder sichtbar. Eine Spur ist laut Wörterbuch,
»ein Abdruck oder ein aufmerksam machendes Mal von etwas, das
selbst nicht gegenwärtig ist.« Etwas schreibt sich in Material
ein, und die Spuren, die danach zu sehen sind, bezeugen, dass etwas
gewesen ist.
Eine
andere Form des Gedenkens
Durch das Markieren
der Leere und der Spuren schaffen Boltanski und Salmon es, ihrer Beschäftigung
mit dem Thema Holocaust Ausdruck zu verleihen, ohne in eine »weinerliche«
Kunst (Boltanski) zu verfallen und ohne die Dimension des Grauens zu
vereinfachen. Sie überlassen den Betrachter seinen eigenen Gedanken,
indem sie zwar seine Assoziationen stimulieren, ihm aber nichts erklären
oder etwas Subjektives vorkauen.
Es ist ganz wichtig, dass es neben Gedenkstätten und Mahnmalen
noch eine andere Form des Gedenkens gibt, die direkt mit den Seh- und
Verarbeitungsgewohnheiten der Menschen umgeht und versucht, diese zu
durchbrechen. Nur dadurch ist es möglich, die Erinnerung wach zu
halten und so etwas wie authentisches Gedenken im Betrachter zu erzeugen.
Natürlich wird dieser niemals begreifen, wie die Opfer tatsächlich
gelitten haben, denn der Betrachter, so hat der Schriftsteller Peter
Weiss einmal formuliert: »trägt daran, doch fassen kann er
nur, was ihm selbst widerfährt.«
Fußnoten
(1) James E
Young »At Memory Edge«. Yale University Press: New Haven
and London, 2000. S. 9-10
(2) Der Begriff »Asservate« kommt aus dem Lateinischen und
bedeutet: »im Recht der in amtliche Verwahrung genommene Gegenstand.
Asservate dienen als Beweismittel im Prozess.« Siehe: Naomi Tereza
Salmon, Asservate. In: »Eikon - Internationale Zeitschrift
für Photographie und Medienkunst«. Heft 14/15. Wien 1995,
S. 42.
(3) ebd.
(4) siehe: Aleida Assmann, »Erinnerungsräume – Formen
und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses«, München,
1999. S. 378–382.