Horst
Hoheisel: Ein unübersehbares Zeichen – Denkmal für die
ermordeten Juden Europas
von Rebecca Wilton
Einer der provokantesten Vorschläge für das Holocaustmahnmal
in Berlin kam von dem Kassler Künstler Horst Hoheisel. Er bewarb
sich zum ersten Wettbewerb 1994/95, schied allerdings bereits in der
ersten Runde aus. Hoheisels Entwurf Denkmal für die ermordeten
Juden Europas (1995) sah vor, dass sich in unmittelbarer Nähe zum
Wettbewerbsgelände befindende Brandenburger Tor abzureißen,
es zu Staub zu zermahlen und das Granulat auf dem Gelände für
das Mahnmal zu zerstreuen. Anschließend sollte das Gelände
mit Granitplatten zugedeckt werden.
Eine der zentralen Fragen, die sich Hoheisel innerhalb seiner künstlerischen
Arbeit im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus immer wieder stellt,
lautet: Wie symbolisiert man eine Abwesenheit, einen Verlust? Zwei seiner
realisierten Projekte beziehen sich sehr deutlich auf diese Auseinandersetzung:
»Aschrottbrunnen in Kassel« (1985) und »Zermahlene
Geschichte« auf dem Innenhof des Marstalls in Weimar (1997–2003),
welches Hoheisel in Zusammenarbeit mit Andreas Knitz entwickelte.
In Kassel wurde 1984 ein künstlerischer Wettbewerb ausgelobt, der
sich mit dem in der Nazizeit zerstörten und anschließend
nur in Rudimenten erhaltenen Brunnen – benannt nach seinem jüdischen
Stifter Sigmund Aschrott – beschäftigte. Der Brunnen bestand
ehemals aus einer 12 m hohen Pyramide. Gegen einen originalgetreuen
Wiederaufbau schlug Hoheisel eine »Negativform« des Brunnens
vor, die in den Boden versenkt bis zum Grundwasserspiegel reicht. Der
Boden ist mit begehbaren Glasplatten bedeckt. »Aus der architektonischen
Spielerei (...) ist ein Loch geworden, in dem tief unten das Wasser
steht und manchmal ein brüchiges Spiegelbild der alten Brunnenform
reflektiert.« (Horst Hoheisel)(1)
In anderer Form, aber ebenfalls an einem Ort mit komplexerem geschichtlichem
Hintergrund, verwirklichten Horst Hoheisel und Andreas Knitz von 1997
bis 2003 ihr performatives Projekt im Innenhof des Marstalls von Weimar.
Dort standen zwei geschichtsträchtige Baracken – eine historische
Wagenremise des Marstalls und eine aus Platzmangel 1935 für Verwaltungszwecke
von der Gestapo gebaute Holzbaracke. Die historische Baracke wurde als
Gefängnis der Gestapo genutzt, nach 1945 ebenso vom sowjetischen
NKDW (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten). Beide Baracken
sollten einer baulichen Umgestaltung weichen, zur Erweiterung des Thüringer
Hauptstaatsarchivs, welches in dem ehemaligen Marstall untergebracht
ist. Hoheisel und Knitz sammelten zunächst »Beweismaterial«
(Türen, Zellengitter, Fenster), die am gleichen Ort im Archiv aufbewahrt
werden und neben der Korrespondenz von Goethe und der Buchenwaldkartei
besichtigt werden können. Anschließend fand der Abriss und
das darauf folgende Zermahlen als eine Performance unter Einbeziehung
der Öffentlichkeit statt. Das Granulat wurde auf dem Boden des
Innenhofes verteilt. Die Grundrisse der beiden Baracken sind durch Sichtschächte
zu den unterirdischen Archivräumen markiert. Die mitunter langen
Verzögerungen im Bauprozess der Archivräume, an den das künstlerische
Projekt unmittelbar gebunden war, haben sie mit bewusst öffentlichkeitswirksamen
Aktionen gefüllt.
Formal steht das Projekt »Zermahlene Geschichte« im Zusammenhang
mit dem Vorschlag für das Holocaustmahnmal. Inhaltlich bedeutet
dieses Prinzip aber, übertragen auf das Brandenburger Tor, einen
deutlichen Affront. Die Deutschen sollen eines ihrer bedeutsamsten Nationalbauwerke
opfern, etwa als eine Art »Wiedergutmachung« für etwas,
was vor fünfzig Jahren in ihrem Land geschehen ist?
Das Brandenburger Tor stellt für Hoheisel das Zeichen der nationalen
Identität der Deutschen dar. Seit dem Holocaust aber kann es keine
ungebrochene deutsche Identität geben, und an diesem »Zivilisationsbruch«(2)
setzt Hoheisels Idee an. Oft ist die erste Reaktion auf das Projekt
die Frage, was denn das Brandenburger Tor mit dem Holocaust zu tun hätte.
Natürlich hat es vordergründig nichts mit dem Holocaust zu
tun, sehr wohl aber in großem Maße mit dem Volk der Täterschaft
– mit den Deutschen. Hoheisel ist als Antworten auf das Projekt,
welches als eine Frage verstanden werden kann, der Vorschlag gemacht
worden, doch einfach andere, unbeliebte Bauwerke wie die Siegessäule
oder den Berliner Dom abzureißen oder wenigstens nur ein oder
zwei Säulen des Tores.
Hoheisel geht es sicherlich weder um eine Opfergeste in diesem Sinne
noch um eine reine Provokation, sondern in erster Linie um die Reflexion
über ein Mahnmal für den Holocaust. Seine künstlerischen
Projekte entstehen u. a. aus der Frage, ob sich ein Volk zur Erinnerung
an eine solche Vergangenheit mit einem ästhetischen Objekt beschenken
dürfe, das den Prozess der Erinnerung mehr verhindere als ihn fördere.
So fragt er: »Beschweren wir nicht die Geschichte mit mächtigen
Sockeln, damit sie uns nicht zu nahe kommt?«(3)
In den oben skizzierten Projekten von Hoheisel taucht nirgendwo ein
solches Objekt auf. Hoheisels Prinzip ist das der Leere, der Abwesenheit,
die jeder aushalten muss, wenn er sich an einen Ort des Gedenkens begibt.
»An ein Denkmal gewöhnen sich die Leute nach ein paar Jahren,
und man spricht nicht mehr darüber. Deshalb habe ich den Vorschlag
gemacht, den Deutschen etwas wegzunehmen, was ihnen wirklich wichtig
ist. (...) Ich wollte das Aushalten der ganzen Leere.«(4)
Durch das Gestaltungsprinzip der Leere wird Hoheisel seinem eigenen
Anspruch gerecht, den Betrachter in seine Arbeit miteinzubeziehen. Dieser
Aspekt findet sich auch bei anderen Künstlern, beispielsweise bei
Jochen Gerz. Sei es
das Mahnmal gegen Faschismus in Hamburg-Harburg, die – von Besuchern
beschriftet – langsam im Boden verschwand, oder das unsichtbare
Mahnmal gegen Rassismus in Saarbrücken (hier auch vordergründig:
die Leere), über den die Menschen laufen und somit Teil des Denkmals
werden. Auch Gerz’ Vorschlag für das Holocaustmahnmal legt
großen Wert auf die Integration der Menschen, die diesen Ort besuchen:
Jeder kann für sich eine Antwort auf die Frage »Warum?«
finden und diese niederschreiben.
Diese andere Herangehensweise an die Erinnerungsarbeit und somit auch
an die Herausforderung, Denk- und Mahnmale zu schaffen, findet sich
bei einigen Künstlern ähnlichen Alters.(5)
Und es ist kein Zufall, dass sie aus nahezu einer Generation stammen.
Für die Arbeit von Hoheisel und anderen ist es grundlegend, dass
sich bei jeder Generation eine eigene Art von Erinnerung bildet –
z. B. werden in kurzer Zeit Menschen heranwachsen, die keine Gelegenheit
mehr haben, Zeitzeugen des Nationalsozialismus zu befragen; dementsprechend
werden innerhalb jeder Generation neue und andere Diskussionen um Denkmale
entstehen. Hinsichtlich repräsentativer und monumentaler Bauten,
die scheinbar für die Ewigkeit geschaffen wurden, gestaltet sich
dies allerdings schwierig. Sie werden in fernen Zeiten vielmehr dafür
stehen, auf welche Art und Weise und mit welchen Problemen die Schöpfer
zu ihrem Denkmal gefunden haben.
Da aber gerade ein solches monumentales, ästhetisches Objekt für
das zentrale »Mahnmal für die ermordeten Juden Europas«
erwartet wurde, waren Vorschläge wie die von Hoheisel, Stih &
Schnock(6) (siehe auch
Stih und Schnock, Herz/Matz(7),
Jochen Gerz)
von Beginn an zum Scheitern verurteilt. (Kurioserweise gelangte
ein Vorschlag, unter dem Gelände eine Atombombe zu zünden,
in die dritte Runde). Schließlich geht es um einen repräsentativen
Ort, an dem Gedenkfeiern und Staatsbesuche abgehalten werden können.
Vielleicht sollte das entstehende Mahnmal auch nicht als irgendetwas
anderes gesehen werden: denn das Nachdenken und die Erinnerungen, die
bei einem Besuch eines ehemaligen KZ ausgelöst werden, wobei hier
die Authentizität des Ortes eine erhebliche Rolle spielt, lassen
sich durch kein ästhetisches Objekt ersetzen.
Literatur
(1) Horst Hoheisel, Rathaus-Platz-Wunde, in: Aschrott-Brunnen: offene
Wunde der Stadtgeschichte, Kassel 1989.
(2) Dan Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch, Denken nach Auschwitz, Fischer
Frankfurt/Main, 1988.
(3) Horst Hoheisel, Jetzt, wo ich soviel darüber weiß, habe
ich gar keine Idee mehr für ein Denkmal, in Erinnern und Erben in
Deutschland, Versuch einer Öffnung, Hrsg. u. a. Eva Schulz-Jander,
Euregio-Verlag Kassel, 1999, S. 234.
(4) Horst Hoheisel in einem Interview vom 07.02.2003, www.zermahlenegeschichte.de
(5) siehe dazu: James E. Young, Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer
Kunst und Architektur, Hamburger Edition, 2002.
(6) Renata Stih & Frieder Schnock entwarfen eine Bushaltestelle, an
der täglich Busse zu den schon bestehenden Gedenkstätten der
ehemaligen KZs fahren sollten.
(7) Rudolf Herz und Reinhard Matz wollten in ihrem zweiten Vorschlag im
Mittelpunkt Deutschlands, in der Nähe von Kassel, auf der Autobahn
eine Geschwindigkeitsbegrenzung und Pflastersteine über einen Kilometer
einbauen. Auf einer großen Tafel, die sonst für Ausfahrten
genutzt wird, steht Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Das
Gelände in Berlin sollte veräußert werden, der Gewinn
heute verfolgten Minderheiten zugute kommen.

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Abb. 1 Horst Hoheisel, Wettbewerbsvorschlag für das Holocaustmahnmal
in Berlin, 1995.

Abb. 2 Der Aschrottbrunnen vor seiner Zerstörung.

Abb. 3 Hoheisel/ Knitz, Die Negativform des Brunnens.
(aus: Hoheisel & Knitz, Zermahlene Geschichte, 1999, ebd.)

Abb. 4 Hoheisel/Knitz, Holzbaracke im Innenhof des Marstalls.

Abb. 5 Hoheisel/Knitz, Zermahlen des Granulats.

Abb. 6 Hoheisel/Knitz, Der Innenhof nach Abschluss des künstlerischen
Projekts, 2003.
(alle: http://www.zermahlenegeschichte.de/Projects-H-K/kunst2.htm)
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