Orte des
Erinnerns im Bayerischen Viertel, Berlin und Bus Stop - The Non-Monument,
Projekt für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas,
Berlin von Renata Stih und Frieder Schnock
von Henning Tilp
-
Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel, Berlin
- Bus Stop –
The Non-Monument, Projekt für das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas, Berlin
- Eigene Position
- Literatur
Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel,
Berlin
Schrecken als Normalität und die Zerstörung der Öffentlichkeit
sowie die Verdrängung des kollektiven Gedächtnisses.
Das Bayerische Viertel mit seinen wenig beschädigten Häusern
aus dem 19. Jh. in Berlin Schöneberg ist heute ein besonders friedlicher
und grüner Ort abseits der Touristenpfade. Vor dem Krieg wohnten
hier etwa 16.000 deutsche Juden, darunter viele Professoren und wohlhabende
Bürger – man nannte es auch in den zwanziger Jahren die »Jüdische
Schweiz« Berlins.
Kein Anzeichen verwies auf die hier mindestens 6.500 deportierten oder
geflohenen Menschen. Daraufhin sammelte 1988 ein Anwohner des Bayerischen
Viertels, alle Namen der deportierten Juden des Viertels und präsentierte
ein Jahr später die Namen der über 6.000 Menschen der Schöneberger
Bezirksverordnetenversammlung. Im Jahr 1991 wurde die erste Phase einer
Berlinweiten Ausschreibung zu Entwürfen eines Mahnmales bekannt
gegeben (96 Einreichungen gab es darauf hin, 8 Finalisten). Am 1. April
1992 wurde einstimmig der Entwurf von Renata Stih und Frieder Schnock
gewählt und 1993 realisiert.
Das Denkmal
Es wurden 80 Wegweiser an Straßenlaternen im Bayerischen Viertel
angebracht die mehr oder weniger, auch dem sich ständig wechselnden
Geschäftsumfeld geschuldet, mit ihrem direkten Umfeld korrespondieren.
Die Schilder hängen in 3 m Höhe und haben die Maße 50
cm x 70 cm.
Auf der einen Seite der Schilder ist ein nicht nostalgisch gestaltetes
Bildmotiv in der »Ästhetik der Normalität« (vergleichbar
mit »Bilder-Duden« bzw. »Letra-Set«) zu sehen.
Es sind Bilder zu sehen die einem neutralen Alltags-Realismus entstammen
und die somit auch im kunstuninterssierten Betrachter keine Aggression
und Irritation hervorrufen. Es werden Dinge und Waren dargestellt, Zeichen,
Piktogramme, Informationsträger oder polyvalente Symbole (z.B.
Brot, Tasche, Thermometer, Medien, abstraktes Muster).
Auf der anderen Seite der Schilder findet man kurze Texte aus den 30er
und 40er Jahren der deutschen antijüdischen Gesetze. Die Schilder
korrespondieren mit der Selbstverständlichkeit von Ladenschildern
und Werbegrafik des Stadtraums, genauso die präzisen Buchstaben
der Gesetzestexte auf der Rückseite, die sich äußerlich
in funktionale, schwarzweiße Informationsästhetik von Straßenschildern
einfügen. »Aufklärung« stellt sich über die
Kontextverschiebung von Bild- und Textebene her, sowie über die
Zusammenfassung aller Motive auf drei Bildtafeln, die als Rahmenband
um eine Überlagerung zweier Stadtpläne aus den Jahren 1933
und 1993 im Viertel zu sehen sind.
Der Betrachter soll sich, angeregt durch die Sichtverbindungen zwischen
den Schildern, das Werk und in das Viertel »einwandern«
und dabei das heutige Leben im Stadtteil kennen lernen
Bild und Text gehen in der Gesamtheit der Tafeln vier unterschiedliche
Beziehungen ein:
- Direkte Entsprechungen: z.B. ein Paar goldene Trauringe kommentiert
das Verbot von Eheschließungen jüdischer und »arischer«
Bürger.
- Bewusste Abweichung von Zeichen und Bezeichnung: z.B. ein deutscher
Schäferhund steht für das »Niederlassungsverbot für
jüdische Tierärzte«.
- Verweise auf heute noch gebräuchliche Beschilderungen öffentlicher
Einrichtungen: z.B. Deutsche Reichsbahn, U-Bahn, Bushaltestelle, Arztpraxis
etc. stehen kehrseitig entsprechenden Verboten und Verordnungen, die
das Leben der deutschen Juden von 1933 bis 1945 sukzessive einschränkten
und bis zur totalen Vernichtung führten
- Verzicht auf Illustration: Schwarze Rechteckfläche steht dem
»Auswanderungsverbot für Juden« entgegen Harmlosigkeit
der bunten Sujets weicht der Projektion abgründiger Ausweglosigkeit.
Mit Zustimmung des Berliner Senats brachten Stih und Schnock zwei Wochen
bevor das Denkmal der Öffentlichkeit vorgestellt wurde 17 Schilder
an den Laternen an und brachten sofort bestürzte Mitmenschen dazu
die Polizei zu rufen – Neonazis hätten das Viertel mit antisemitischen
Schildern überzogen. Daraufhin mussten die Schilder entfernt werden.
Nachdem diese Öffentlichkeit hergestellt war, wiesen Stih und Schock
darauf hin das die Gesetze damals auch nicht öffentlich postiert
und verkündet wurden und auch nicht solche Reaktionen hervor riefen.
Später wurde dann unter die Schilder ein erklärender Text
angebracht, der auf das Denkmal in dieser Form hinweist.
Eigene
Position
Meiner Meinung nach unterstreicht die Form des Denkmals den eindeutigen
Gegenwartsbezug des Anliegens. Das Denkmal entzieht sich so dem Vorwurf
des überhistorischen Abstrahierens, dem andere Denkmäler und
Entwürfe unterliegen.
Das Denkmal schafft es beim Betrachter immer wieder neue »Gedenkebenen«
zu schaffen. Es scheint mir mehr zum Nachdenken und auch zum erwecken
von Interesse an dieser, doch mit so vielen Berührungsängsten
behafteten, uns alle betreffenden Geschichte beitragen zu können,
als andere »feste« Gedenkstätten. Es ist durch seine
dezentrale Anordnung in das tägliche Leben integriert und schafft
eine sich nicht aufdrängende Plattform. Über dessen immerwährende
Auseinandersetzung kann möglicherweise eine Annäherung an
ein unfassbares Geschehen vollzogen werden. Es wurde mit diesem Denkmal
ein Gegenpol zu traditionellen Mahnmalen und ihrer ritualisierten Aneignung
geschaffen. Außerdem hinterlässt es den Eindruck einer gedanklichen
und örtlichen Offenheit, die andere Mahnmale oftmals an und unter
einem Ort abschließend zusammenfassen. Besonders auffällig
ist, dass es keine speziell abgestellten Polizisten gibt die im Umfeld
der Schilder patrouillieren um es vor eventuellen Schändungen zu
schützen. Nach Gesprächen mit Anwohnern des Bayerischen Viertels
stößt das Denkmal auf absolute Akzeptanz und den Willen um
Auseinandersetzung – bei jung und alt, egal ob Anwohner oder Auswärtige.
Renata Stih und Frieder Schnock nehmen sich als individuelle Künstler
zurück, schaffen somit eine Plattform zur Selbstidentifikation
eines Stadtteils und stellen somit eine von den Nationalsozialisten
zerstörte Öffentlichkeit wieder her.
Bus
Stop - The Non-Monument, Projekt für das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas, Berlin
Gemäß
den Gedanken von dezentralem Gedenken und der Integration des Erinnerns
in den täglichen Lebensrhythmus schlugen Stih und Schnock beim
Wettbewerb für Deutschlands nationales Denkmal für die ermordeten
Juden Europas ein »Nichtmonument« vor. Anstatt den Platz
zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor zum Denkmal umzubauen,
wollten sie dort einen Bus-Bahnhof einrichten von dem Busse regelmäßig
zu Konzentrationslagern und anderen europäischen Orten der deutschen
Vernichtungsmaschinerie aufbrächen. Eine zentrale Wartehalle und
eine 130 m langer Bus Stop sollten mit Hilfe von Computern Geschichten
und Bibliografien zu den Zielorten der Busse geben – eine Art
Gedenkreisebüro.
Auch hier soll mit der Integration solcher Zielangaben wie z.B. Auschwitz
auf den roten Linienbussen das Gedenkbewusstsein in das tägliche
Leben zielen. Nachts sollen die geparkten Busse mit ihren beleuchteten
Zielorten eine Art Lichtskulptur darstellen und sich am Tage in einer
»geschäftigen Alltäglichkeit des Grauens« auflösen.
Stih und Schnock veröffentlichten im Selbstverlag einen 128-seitigen
Busfahrplan der neben den Abfahrts- und Ankunftszeiten auch noch weitere
Informationen über die Strecke und den Zielort mitteilte (z.B.
wie man nach Lodz kommt, wie viele Juden dort lebten, wie sie umgebracht
wurden, wer ihre Mörder waren).Eigene Position
Auch hier sehe ich die Einbindung der Thematik des Holocaust in den
öffentlichen Raum als entscheidenden Kernpunkt des Denkmals, mit
dem man wie schon oben beschrieben eine tägliche, extrem wichtige
Diskussion am und im alltäglichen Leben hält. Ich kann mir
vorstellen, dass es im Gegensatz zum nun umgesetzten monumentalen Entwurf
von Eisenmann mehr Wirkung hat, die Menschen direkt anzusprechen. Aufarbeitung
ist mehr als nur bloßes Aufzählen von Opfern und Brandmarken,
es bedeutet die beständige dynamische Auseinandersetzung mit der
Thematik und der verinnerlichten Erkenntnis, dass solch ein Völkermord
nie wieder entstehen kann. Die Forderung, »Denken und Handeln
so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole«, wie es
Adorno formulierte, für das kein Denkmal eine angemessene Übersetzung
findet, würde in diesem prozesshaften Nicht-Denkmal sinnlich fassbar.
Als Schwachpunkt dieses Entwurfes erscheint mir eine wenig kontrollierbare
Ausnutzung dieses Busreisekonzeptes. Schnell könnte die Gedenkreise
zum preiswerten Ausflug in entfernte Orte missbraucht werden und es
könnte zur Verharmlosung kommen.
Dennoch ist mit diesem Entwurf die Ortlosigkeit des Verbrechens artikuliert.
»Ein didaktisches Sightseeing-Programm zu den Stätten von
Ausgrenzung, Deportation und Ermordung ist gar nicht nötig. Es
würde schon reichen, wenn ab und zu ein Bus hier hält, an
einer Station »Holocaust-Denkmal«, an der ein Denkmal zu
sehen ist, das nicht gebaut wurde, einer Station, an der niemand einsteigt
und niemand aussteigt.« (Hanno Loewy in: Frankfurter Rundschau,
14. August 1995)