Beatrice Schuett Moumdjian hat ihre eigenen Familienfotos, sowie historische Fotos, minutiös bis ins kleinste Detail zerlegt, und ihre eigenen Erinnerungen und Informationen dazu notiert. Die multi-mediale Collage erzählt eine autobiographische Geschichte, die vor Beatrices Geburt beginnt, und unterschiedliche zeitgeschichtliche Ereignisse berührt wie den sozialistischen Totalitarismus in Bulgarien und der DDR, Migration und Wende, Armenischer Genozid, Stasi, Trauma.
BSTRAKT
Ich verwende Fotografie, Collage und Text um eine non-lineare Geschichte zu erzählen, die vor meiner Geburt beginnt. Ich habe sowohl meine privaten Familienfotos als auch historische Fotografien digitalisiert, vergrößert, Objekte herausgeschnitten und sie teilweise im Berliner Stadtraum, teilweise vor schwarzem Hintergrund aufgenommen, und archiviert. Die Erzählung bewegt sich entlang meiner Biographie und berührt unterschiedliche zeitgeschichtliche Ereignisse wie den sozialistischen Totalitarismus in Bulgarien und der DDR, Migration und Wende, Armenischer Genozid, Stasi, Trauma und Familie. Derzeit existiert eine Serie von siebzig Fotografien, in Bearbeitung sind weitere hundert Fotografien.
I. Detaillierte Projektbeschreibung
Ich habe alle Familienfotos gescannt, die mir übrig geblieben sind. Sie wurden in Bulgarien und Deutschland zwischen den 1930er und 2000er Jahren aufgenommen. Die Fotos habe ich digital auseinandergeschnitten und tausende von Objekten extrahiert wie Spielzeug, Möbel, eigene und fremde Körperteile. Zu jedem dieser Objekte schreibe ich etwas auf. Woran es mich erinnert oder Wissen über dessen Ursprung und Bedeutung. Als nächsten Schritt habe ich die vergroesserten Elemente auf Fine Art Papier ausgedruckt und auf Kunststoffmaterial montiert, und in einem körperlich aufwändigen Prozess erneut ausgeschnitten. Jetzt sind die einzelnen Elemente aus der Begrenzung des viereckigen Fotos wieder in räumliche Objekte übersetzt worden.
Das einst-vollständige Privatfoto expandiert buchstäblich und im übertragenen Sinne, und eröffnet eine dazwischenliegende Ebene, eine Lücke, auf der sich Unsagbares und Ambivalentes ausdrücken lässt. Die repräsentative Funktion des Fotos als Familienbild, Schnappschuss, Zeitdokument ist zusammengebrochen und gibt den unmittelbaren Blick frei auf das einzelne Element. Das vollständige Foto verliert seinen Wahrheitsanspruch, da sich mehr dahinter verbirgt, als auf den ersten Blick erkennbar.
Die einzelnen Objekte in den Fotos können Referenzpunkte für viele verschiedene Menschen sein. Manche davon sind Konsumobjekte zu bestimmten Momenten der Zeitgeschichte, andere können an eigene, persönliche Verbindungen zur Familie und der eigenen Biographie erinnern. Über die Objekte und meine persönlichen Verbindungen dazu betrete ich die Geschichte anderer Menschen, und andere Menschen betreten meine Geschichte.
II. Hintergrund
Begonnen hat dieses Projekt mit einem unbestimmten künstlerischen Verlangen danach, architektonisch in der Zeit zurück zu reisen. Ich wollte die Wohnungen meiner Kindheit in das Hier und Jetzt wieder aufbauen, buchstäblich. Ich habe monatelang experimentiert bis ich damit angefangen habe, die Oberflächen in den Fotos voneinander zu trennen und zu ordnen.
Die Welt der Fotos, in die ich auf meinem Bildschirm hineingezoomt habe, ist tiefgründiger geworden. Mein Erinnerungsprozess wurde angekurbelt, und die Lücken wurden sichtbar gemacht. Die Oberflächen geben nicht nur Erinnerungen und Informationen frei auf die darin abgebildeten Objekte. Im Prozess habe ich mich auch an andere, jahrzehntelang vergessene Objekte erinnert, und damit auch an Situationen, und damit verbundene Gefühle.
So viel Zeit mit den Fotos in Großaufnahme auf meinem Computerbildschirm zu verbringen, hat meine Beziehung zu ihnen verändert. Wieder und wieder den Kopf meiner Mutter in Photoshop abzuschneiden hat einen Effekt auf mich gehabt. Ich habe nur einen kleinen Bestand an Fotos, weil der Rest weggeworfen wurde. Innerhalb der Realität der Fotos, die mir übriggeblieben sind, finden sich im Hintergrund auch immer wieder andere Fotos. Die ausgeschnittenen Fotos habe ich noch einmal in Kapa-Objekte verwandelt. Sie sind verglichen mit dem Rest der Objekte noch unschärfer und verschwommener. Dies illustriert wie stark sich das Projekt durch Ebenen der Distanz auszeichnet. Ebenen der Distanz die sowohl fotografisch ausgedrückt werden, als auch psychologisch.
Da ich in meiner Kindheit von meiner Mutter viel belogen wurde, und bis heute Dinge über meine Herkunft nicht weiss, ist diese Arbeit ein spekulatives Annähern an die Wahrheit mittels dem, was ich weiss oder glaube zu wissen. Bei der Eröffnung von Kunst im Untergrund 2019 und meiner Diplompräsentation im Februar 2020 habe ich das erste Mal erleben können, dass das Erzählen dieser Geschichte auf diese künstlerische Art positive Gefühle beim Publikum auslöst.
III. Politische Multiperspektive
Viele Künstler arbeiten mit Familienfotos und Zeitdokumenten, die sie mittels verschiedener Techniken verfremden oder mit eigenem oder gefundenem Material collagieren. Meine Collage-Technik übersetzt die einstigen drei-dimensionalen Objekte vom fotografischen 2D-Raum in eine neu rekonstruierte räumliche Umgebung. Die auf Kunststoffplatten montierten Objekte werden für die neugeschaffenen Fotos zu Requisiten im Hier und Jetzt. Schatten, die zum Zeitpunkt der Aufnahme auf Objekte fielen, oder Reflektionen auf Fernsehern sind in der Zeit erstarrt, und werden in die neukomponierten Fotos hinein übernommen. Das neugeschaffene Foto bzw. die Fotoinstallation funktionieren somit wie eine kubistische Zeitmaschine: alle Zeiten und Perspektiven existieren parallel und setzen sich zueinander in Beziehung.
Die Kakophonie der unterschiedlichen Zeiten erlaubt eine Multiperspektive auf mein Leben, das von so vielen politischen Ereignissen in verschiedene Richtungen gedrängt worden ist. Jedes Objekt, ob Hand oder Spielzeug, ermöglicht eine weitere Perspektive auf mein Leben, und damit auch auf ein Stück Geschichte.
Dieser Multiperspektivismus funktioniert nicht nur im fotografischen Sinne. Die Multiperspektive ist eine Metapher für die Kakophonie der Interpretationen umstrittener geschichtlicher und politischer Ereignisse. Geschichtsschreibung hat keine politische Eindeutigkeit sondern unterliegt Interpretationen die beeinflusst werden von sich verändernden Narrativen. Ereignisse wie der Zusammenbruch des Sozialismus, Migration oder der Armenische Genozid werden zu Projektionsflächen unterschiedlicher Ideologien. Beispielsweise der Genozid an den Armeniern, Assyrern und Griechen im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1919: er wird seit der Gründung der heutigen Türkei systematisch totgeschwiegen, wie ich selbst erst seit einigen Jahren weiss. Auch Deutschland, das, als Verbündeter der Osmanen im 1. Weltkrieg, die nötigen Waffen geliefert hat und tödliche Deportationen der Opfer in die Wüste facilitiert hat, begegnet dem Gedenken an die Opfer nicht mit der entsprechenden Perspektive eines Täters.
Multiperspektivismus bedeutet auch, zu sagen: eine Katastrophe kann auch etwas Gutes haben - egoistisch gesprochen zum Beispiel meine Geburt. Eine Katastrophe kann mehrere Wahrheiten in sich bergen.
IV. Familienfotos und historische Fotos
Das Projekt Kunst im Untergrund ist eine ortsspezifische Installation im öffentlichen Raum in der U-Bahnstation Berlin-Stadtmitte gewesen, und ist 2019 als Wettbewerbsgewinner von der neuen Gesellschaft fue bildende Kunst - nGbK - Berlin in Auftrag gegeben worden um des Waffenhandels in Berlin zu gedenken. Die Installation Up in Arms war ebenfalls mit dem Thema Waffenhandel verknüpft und wurde von der nGbK Berlin in Auftrag gegeben und in der Galerie Kunstraum Kreuzberg/Bethanien ausgestellt.
Zusätzlich zu meinen Familienfotos habe ich für beide Projekte auch historische Fotos verwendet, die mit dem Armenischen Genozid zu tun haben. Ich habe Waffen und persönliche Gegenstände der Deutschen und Türkischen Stabsangehörigen ausgeschnitten, die den Genozid facilitiert haben. Für Kunst im Untergrund habe ich die Objekte vor spezifischen, politisch aufgeladenen Orten installiert und fotografiert, wie der Stasi-Zentrale Berlin, und vor den Toren der Waffenhändler.
V. Schluss
Ich habe Methoden der Kriminalistik und Archäologie angewendet um die Geschichte zu erzählen. Anders als es der Titel Forensic Excavations Inventory vermuten lässt, arbeite ich bei diesem Projekt allerdings nicht wie eine Archäologin. Ich habe die fehlenden Stücke meiner Biographie ausgegraben, indem ich das komplette Gegenteil von dem tue, was Archäologen machen - jene suchen die Erde nach Scherben der antiken, einst-vollständigen Objekte ab und rekonstruieren sie, indem sie die fehlenden Teile nachzeichnen. Demgegenüber musste ich mein archetypisches Familienbild zerbrechen um zu verstehen, was die Artefakte meiner Kindheit vor aller Augen, vor allem meiner eigenen, verborgen gehalten haben. Im Erinnerungsprozess haben sich die Artefakte auch als Dokumente entpuppt, die meine persönliche Geschichte mit der politischen Geschichte Deutschlands verknüpfen.