Vom 1.- 17.Juli 2022 spürte das Kulturfestival OSTEN in Bitterfeld-Wolfen jenem Begriff von Zuschreibung und Selbstbestimmung nach und ließ den "Osten" anhand von zahlreichen Projekten und Aushandlungen in und um den Kulturpalast in Bitterfeld, als seinem Protagonisten, sichtbar werden. Über die politische und historische Dimension hinaus, erforschte das Festival und mit ihm die Teilnehmer:innen des Masterprogramms „Kulturen des Kuratorischen“, was “Osten” heute bedeutet. Die ehemalige Gaststätte “Erfrischungsraum” im Keller des Kulturpalastes war vor allem zu DDR-Zeiten ein beliebter Treffpunkt für Arbeiter:innen aus Bitterfeld-Wolfen und für Personen auf der Durchreise. Auch nach dem Mauerfall blieb die Bar in Betrieb, bis sie vor einigen Jahren endgültig schließen musste. Aufgrund giftiger Chemikalien, die sich im Grundwasser unter dem Gebäude sammeln, muss der Keller nun in absehbarer Zeit mit Beton versiegelt werden.
Für das erste Wochenende des OSTEN Festivals, im Juli 2022 entwickelte die Gruppe ein vielfältiges Programm in einer Bararchitektur – zusammengesetzt aus originalen Teilen des “Erfrischungsraums” – die als Ort der Zusammenkunft diente. Die von verschiedenen Arbeitsgruppen entwickelten Projekte setzten sich mit dem Kulturpalast und Bitterfeld auseinander, um Fragen nach Zuschreibungen von Osten sowie Prozesse der Konservierung und Repräsentation für die Zukunft zu öffnen. Für den “Erfrischungsraum 2” entstanden hierbei drei Bereiche mit den Titeln “SAMMELN”, “FERMENTIEREN”, “LETZTE RUNDE”.
Kurator:innen: Anna Karpenko, Dereck Marouço, Makoto Okajima, Sophia Charlotte Reiser, Elisa Maria Schmitt, Laura Stieg, Viviane Tabach
Interviewpartner:innen: Eva Elster, Andrea & Matthias Goßler, Birgitt Heinicke, Martina Schmidt, Reinhard Waag, Eberhard Zeunert
Bereits vor Beginn des “OSTEN Festivals” traf die Kurator:innengruppe “SAMMELN” verschiedene Menschen aus Bitterfeld-Wolfen, um ihre Erinnerungen und Geschichten über die Stadt und die DDR zu hören und aufzuzeichnen. Während des Festivals verwandelt sich das Mobiliar im “Erfrischungsraum 2” in eine Hörstation für diese vielstimmigen Geschichten. Es sind kleine Geschichten, die in großen Erzählungen versteckt und womöglich verloren gegangen sind. Im Gegensatz zur offiziell archivierten Vergangenheit der ehemaligen DDR-Stadt sind es persönliche Erinnerungen. Das Projekt "SAMMELN" ist ein fortlaufender Prozess. Wir laden alle ein, an unserem Projekt des tiefen Zuhörens teilzunehmen, weiter über die Geschichten von Bitterfeld nachzudenken und sich zu fragen: Was bedeutet es, eine Geschichte zu haben? Ist es meine Geschichte, deine Geschichte oder eine gemeinsame Geschichte von uns? Und wo befinden sich Orte der Erinnerung?
Kurator:innen: Sandy Becker, Julianne Csapo, Tuan Do Duc, Elli Leeb, Luise Richter, Leo Scheidt
Das Sammeln von Materialien und vor allem das Einlegen von Obst und Gemüse mit der Aussicht auf eine mögliche Verwertung in der Zukunft war auch Teil der ostdeutschen Realität. Einfache Einmachgläser können Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte wachrufen. Die Kurator:innengruppe “FERMENTIEREN” nutzte diesen Begriff als Metapher, um Praktiken des Sammelns und den Umgang mit Geschichte zu befragen, sowie ein Nachdenken über Aspekte von Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung anzustoßen. Auf welche Weise könnte der „Osten“ fermentiert werden?
In diesem Zuge lud die Kurator:innengruppe das Kollektiv ZEFAK (Aria Farajnezhad, Elard Lukaczik, Zainab Haidary), sowie den Künstler Trakal ein, um sich mit eben jenen Fragen der Haltbarmachung und Transformation auseinanderzusetzen. In gemeinsamer Runde reagierten ZEFAK auf die gesammelten Geschichten aus Bitterfeld und dem Kulturpalast und fügten eigene persönliche Erinnerungen hinzu. Dabei waren Fragen nach Orten der Gemeinschaft, der Verbindung zwischen Arbeit und Landschaft oder historischen Umbrüchen, wie der Wende 1989 zentral. Es entstand ein Austausch zwischen den Künstler:innen, Kurator:innen und Besuchenden. Der Künstler Trakal beschäftigte sich gemeinsam mit einer Gruppe von Interessierten der Region Bitterfeld-Wolfen in Form eines Schreibworkshops mit ostdeutscher Erfahrung von Arbeit. Um zeitgenössische Erzählungen von Arbeitserfahrungen zu finden, produzierte und besprach Trakal Zirkel Texte von Arbeitsbiografien, aber auch Erinnerungen und Träume von Arbeit. Es ist der Versuch eine Sprache für die postsozialistische Verwobenheit mit Arbeit nach dem Arbeiterstaat zu finden. Und auch die Künstlerin und Kuratorin Julianne Csapo lud mit einem Fermentations-Workshop Besucher:innen des Festivals ein, sich über Eingemachtes auszutauschen und ins Gespräch über “Osten” zu kommen.
Kurator:innen: Lisa Dreykluft, Robert Köpke, Insa Langhorst, Martin Naundorf, Iana Pitenko, Martha Schwindling
Die bald verlorene Bar “Erfrischungsraum” im Keller des Kulturpalastes wurde im Rahmen des OSTEN Festivals vorübergehend wiederbelebt: Teile des ehemaligen Inventars fanden sich im Mobiliar des “Erfrischungsraums 2” im Außenbereich des Kulturpalastes wieder. Die Bar diente als Ort der Zusammenkunft und lud während des Festivals zum Verweilen ein. Jeden Abend (1.–3. Juli) während der “LETZTEN RUNDE” nahm der “Erfrischungsraum 2” seinen Betrieb auf und wurde zum Treffpunkt, um ins Gespräch zu kommen. Fragen auf Bierdeckeln konnten ein Einstieg sein, um persönliche Erinnerungen zu teilen und sich auszutauschen. Die “LETZTE RUNDE” diente dazu, einen verlorenen Ort loszulassen und gleichzeitig seine Erinnerung in neue soziale Situationen umzuwandeln.
Ein Projekt des Studiengangs Kulturen des Kuratorischen unter der Leitung von Beatrice von Bismarck, Benjamin Meyer-Krahmer und Julia Kurz, in Kooperation mit OSTEN Festival Bitterfeld-Wolfen im Sommer 2022 und dem GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig Dezember 2022 - April 2023. Das Vorhaben wurde gefördert aus Steuermitteln auf Grundlage des vom Sächsischen Landtages beschlossenen Haushaltes sowie aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.