Dieter Daniels

Strategien der Interaktivität

› Siehe auch: Strategies of Interactivity Updated and final english version

Rezeption als Partizipation – ein Leitmotiv der Moderne
Von der Partizipation zur Interaktion
Ideologie oder Technologie – Brecht oder Turing
Offene oder geschlossene Systeme – John Cage oder Bill Gates
Paradigmenwechsel der Interaktivität von den 60er zu den 90er Jahren
Beispiele mediengestützter Interaktion der Intermediakunst der 60er und 70er Jahre
Fiktion und Funktion der Multimedia-Technologie und des Cyberspace
Beispiele für mediengestützte Interaktionsformen der 80er und 90er Jahre
Interaktion und Internet – die Situation heute
Ein weiteres Mal: Ist Interaktivität eine Ideologie oder eine Technologie?
»Where do we go from here?«

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Rezeption als Partizipation – ein Leitmotiv der Moderne

In einer seiner scheinbar zeitlosen Sentenzen schreibt Marcel Duchamp: »Der persönliche ›Kunst-Koeffizient‹ ist wie eine arithmetische Beziehung zwischen dem Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten.« |1 Demzufolge kann kein Kunstwerk dem Betrachter genau das mitteilen, was der Künstler beabsichtigt. Zugespitzt ließe sich sagen, je größer das Missverständnis, umso höher der persönliche Kunst-Koeffizient. Duchamp stellt deshalb fest, dass dem Betrachter in jeder ästhetischen Erfahrung selbst eine konstitutive Rolle zukommt und er »damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt.« |2 Bei anderer Gelegenheit radikalisiert er seine Aussage sogar dazu, dass »ein Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten oder es lesen und die es, durch ihren Beifall oder sogar durch ihre Verwerfung, überdauern lassen«. |3

Dass die Rezeption eines Kunstwerkes die Partizipation des Betrachters erfordert, erweist sich als ein Leitmotiv der Moderne, welches schon bei Charles Baudelaire aufscheint. Vor den Bildern seines Malers des modernen Lebens wird »der Betrachter zum Übersetzer einer Übersetzung.« |4 Baudelaire fasst dies in seiner Auseinandersetzung mit Wagner sogar noch weiter: »In der Musik, ebenso wie in der Malerei und sogar im geschriebenen Wort, das allerdings die positivste der Künste ist, bleibt eine Lücke, die von der Imagination des Zuhörers zu füllen ist.« |5 Die Konsequenz hieraus formuliert Stéphane Mallarmés Konzept einer kreativen Lektüre. Schon Ende des 19. Jahrhunderts nimmt er die Idee einer prozessualen Kunst mit permutativen, aleatorischen Elementen vorweg, die dann Mitte des 20. Jahrhunderts als das »offene Kunstwerk« zum Programm der Avantgarde wird.

Der unter der Flagge der Moderne geführte Angriff auf das Ideal der ewigen, unveränderlichen Schönheit hat also schon eine hundertjährige Geschichte, bevor er schließlich in dem Konzept einer interaktiven Medienkunst eine neue technologische Basis erhält. Doch in der Erkenntnis, dass die Rezeption eines Kunstwerkes immer ein Element der Partizipation an dessen Konstitution erfordert, liegt auch der Grund für Baudelaires Ablehnung der Fotografie, die bereits im vorigen Kapitel thematisiert wurde. Denn er versteht die Fotografie als eine rein technische Reproduktion der Realität, welche für die Imagination keinen Raum lässt. Worin kann also die Funktion technischer Medien für die Partizipation des Betrachters liegen?

Technische Medien erzeugen, und das verkennt Baudelaire, in ihrer Wiedergabe des Realen einen Nebeneffekt, der in Analogie zu dem »Kunst-Koeffizienten« Duchamps gesehen werden kann. Jede Apparatur, die von einem Menschen zur Aufzeichnung oder Übermittlung von Bildern oder Tönen gebaut und bedient wird, erfasst auch bei perfektester Anwendung niemals nur das, worauf die Intention des Menschen im Moment ihrer Verwendung gerichtet ist. Wer kennt nicht aus eigener Erfahrung das Foto, das viel mehr oder ganz anderes zeigt als vorgesehen, oder die Stimmen auf dem Video, die man eigentlich gar nicht aufzeichnen wollte. Dieses »Mehr« an Information erlaubt bei der Rezeption eines technischen Medienkanals eine Lesart, die mehr oder weniger von der Intention des Produzenten abweicht. Der Nebeneffekt steigert sich mit der Vervielfachung der Kanäle. Für den TV-Zapper oder Netsurfer wird er zum eigentlichen »Inhalt« seines Erlebnisses. |6

Etwas verkürzt ließe sich behaupten, dass der »Kunst-Koeffizient«, den Duchamp als ein psychisches Phänomen beschreibt, seine Entsprechung in dem technischen Prinzip aller Medienapparate findet, die nicht, so wie die zeichnende oder schreibende Hand, unmittelbar an die Intention ihres Nutzers gekoppelt sind. Dieser Effekt, der bei technischen Medien so deutlich wird, dass er im Extremfall ins Rauschen münden kann, beginnt allerdings schon beim Bleistift, der auch etwas über seine materielle Beschaffenheit erkennen lässt, die über seinen rein instrumentellen Charakter hinausweist.

Als Auftakt des Vortrags, in dem Duchamp sein Konzept des »Kunst-Koeffizienten« vorstellt, bezeichnet er den Künstler als ein »Medium« oder ein »mediumistisches Wesen«. |7 Er verwendet den Begriff also in seiner aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bedeutung für eine Person mit paranormalen, beispielsweise telepathischen Fähigkeiten, wie sie auch durch die Surrealisten aufgegriffen wird. Der Terminus hat allerdings, als Duchamp ihn 1957 in den USA verwendet, bereits ein anderes Umfeld von Konnotationen als im Paris der 20er Jahre. Ohne Duchamp hier einen Bezug auf technische Medien unterschieben zu wollen, den er gewiss nicht im Sinn hatte, zeigt sich jedoch, dass auch ein Text wie »The Creative Act« nicht ganz so zeitlos ist, wie es zunächst scheint. Denn der eng mit Duchamp befreundete John Cage arbeitete damals schon intensiv daran, die oben beschriebenen Nebeneffekte technischer Medien zum Thema seiner Musik zu machen. Im Zentrum seiner Überlegungen steht dabei eben jenes Problem der Intentionalität von Kunst, das Duchamp mit dem »Kunst-Koeffizienten« untersucht. Cages Ansatz wird oft als Angriff auf den alt-europäischen Geniekult des Schöpferischen verstanden, doch er selbst hatte keine Scheu, die Vorbildrolle Duchamps für seine eigene Einführung von Zufallsprozessen in den »kreativen Akt« immer wieder zu betonen.

Anfang der 50er Jahre verwirklicht Cage mit seinen Kompositionen für Radioapparate vielleicht die ersten völlig »offenen Kunstwerke« unter Einsatz technischer Medien – übrigens noch bevor Umberto Eco 1958 diesen Begriff prägt. |8 In einem Stück wie Imaginary Landscape No. 4 von 1951 für zwölf Radios und vierundzwanzig Ausführende setzt Cage den Zufall in doppelter Weise ein: Zum einen bestimmt er nach dem I Ging die Parameter der Partitur, die nur aus Anweisungen zur Bedienung der Radioapparate bestehen, zum anderen stellen die Klänge der empfangenen Sender eine zufällige, aber ebenso gegenwärtige Beziehung zum Hier und Jetzt der jeweiligen Aufführung her. Damit wird der oben genannte Nebeneffekt technischer Medien, immer mehr Information zu transportieren, als ihre Nutzer intendieren, zum zentralen Arbeitsmittel einer Kunst, die die partizipative und konstitutive Rolle der Rezipienten zum Prinzip einer neuen Form von Kreativität und eines neuen Werkbegriffs macht.

Dieser Exkurs zur Geschichte der Moderne verdeutlicht, dass sich die Frage der Partizipation des Betrachters schon stellt, bevor technische Medien in der Kunst verwendet werden. Durch die Technik erhält sie allerdings eine neue Dimension, da es in der Medienkunst zu einer Interferenz zwischen den zwei genannten Formen der nicht-intentionalen Entstehung von Information kommt. Die psychische Rolle des Künstlers als »Medium« und die technische Funktion von Medienapparaten gehen hier eine Verbindung ein. In diesem Zwischenfeld entfaltet sich seit rund drei Jahrzehnten die vielfältig schillernde Bedeutung des Begriffs der Interaktivität, der das Hauptthema dieses Kapitels bildet.

Von der Partizipation zur Interaktion

Die bisherigen Überlegungen zur Partizipation des Betrachters, Zuhörers oder Lesers gehen von der Veränderung der Rezeption moderner Kunst aus. Sie beziehen sich zwar auf die ästhetische Erfahrung und Bewertung von Kunst, aber der materielle Bestand des Kunstwerks bleibt dabei unverändert. Deshalb kann sich diese moderne Rolle des Rezipienten auch auf die Werke der Geschichte beziehen. So nennt Duchamp die Neuentdeckung El Grecos zur Zeit des Expressionismus als Beispiel dafür, dass die Betrachter »die Bilder machen«, indem sie aus der Gegenwart heraus die Sicht auf die Vergangenheit verändern.

Doch wenn das Kunstwerk selbst auf eine aktive Rolle des Rezipienten hin angelegt ist, vollzieht sich der zweite, für das Folgende entscheidende Schritt zu einer neuen künstlerischen Produktionsform, welche eine Interaktion zwischen dem Rezipienten und dem Werk erlaubt, indem dieser auch in dessen optische, akustische oder textuelle Form eingreift. Das Kunstwerk wird dabei zu einer Art kollaborativem Prozess, an dem sich der Künstler und verschiedene Rezipienten beteiligen. Dadurch erhält auch die Frage nach der Intentionalität von Kunst eine neue Wendung, indem die Betrachter – sozusagen im wörtlichen Sinne von Duchamps Diktum – nun die Bilder machen. Die Interaktion kann dabei auf sehr unterschiedliche Weise stattfinden, beispielsweise in Form eines Objekts, im Kontext einer Situation oder durch ein technisches Medium. Im einfachsten Fall können die Rezipienten ein vom Künstler geschaffenes Objekt modifizieren, wie etwa in der kinetischen Kunst der 60er Jahre. Komplexere Interaktionsstrukturen entstehen durch die Kombinatorik von Textteilen oder Klängen, die in objekthafter Form oder auch nur als Partitur die aktive Rolle des Rezipienten erfordern, um das Werk überhaupt entstehen zu lassen.

Beispielhaft lässt sich dieser Übergang von der Partizipation zur Interaktion an Cages Vorbildrolle für das Happening darstellen. Cages Verwendung von Zufallsfaktoren macht jede Aufführung eines Stücks zu einer Uraufführung, die anders als jede bisherige klingt. Die Ausführenden und das Publikum haben deshalb keine auf eine perfekte Reproduktion gerichtete Erwartungshaltung, sondern sind offen für eine neue Erfahrung. Seit Ende der 50er Jahre erhalten die Ausführenden dabei in Cages Kompositionen immer mehr Freiraum. Die grafischen Partituren geben schließlich nur noch die Methode und das Material für eine Art »do it yourself«-Musik vor, wie die transparenten Folien von Fontana Mix (1958) und ihre im ersten Kapitel beschriebenen multiplen Anwendungen für verschiedene Stücke. Von hier ist es nur noch ein Schritt zu Allan Kaprows Konzept des Happenings. Auch die Happenings beruhen noch auf Partituren mit einem Handlungsrahmen, doch diese wenden sich nun an die Teilnehmer, die nicht mehr vom Publikum getrennt sind, sondern ihre eigenen ästhetischen Erfahrungen selbst gestalten. Damit tritt an die Stelle des abgeschlossenen Werks ein offenes Aktionsfeld, welches erst durch die Mitwirkenden entsteht. Diese stehen dabei in Interaktion untereinander sowie mit dem vorgegebenen Handlungsrahmen, sodass die Kommunikation zum zentralen Faktor des ästhetischen Erlebnisses wird. Dies führt bis zur Aufhebung der Grenze von Autor, Teilnehmern und Publikum.

Bei der Interaktion über ein technisches Medium sind verschiedene Modi möglich, deren Spannbreite von der Mensch-Maschine- zur Mensch-Medium-Mensch-Kommunikation im Folgenden das Hauptthema bildet. Die Rolle der Medientechnik geht dabei weit über den bisher untersuchten Nebeneffekt hinaus, ein »Mehr« an Information zu produzieren, das eine Art »kreativer Lektüre« jenseits der Intention des Produzenten ermöglicht. Wenn die beiden medientechnischen Grundfunktionen »Speichern« und »Übertragen« für ein offenes Kunstwerk eingesetzt werden, erlauben sie eine Überlagerung der Produktion mit der Rezeption, die – wie im Falle der Aktionskunst – die Grenze zwischen Autor und Publikum aufheben kann.

Diese verschiedenen Formen der Interaktion zeigen schon in der Kunst das breite Bedeutungsspektrum dieses Begriffs. Noch vielfältiger sind die Bedeutungen im allgemeinen Sprachgebrauch. Dabei treten seit Ende der 80er Jahre aber immer deutlicher zwei Verwendungsweisen in den Vordergrund: Einerseits die aus der Sozialwissenschaft stammende Theorie des aufeinander bezogenen Handelns von Personen, andererseits die vor allem technologisch verstandene Kategorie der Mensch-Maschine-Kommunikation, die meist als Interaktivität bezeichnet wird. |9 Da in einer Mediengesellschaft Menschen mittels Maschinen mit Menschen kommunizieren, ist die Überlagerung der beiden Felder evident. Daher soll der Begriff Interaktivität im Folgenden für alle Formen der medienbasierten Kommunikation und Interaktion stehen, die sich sowohl zwischen Mensch und Maschine als auch zwischen den Menschen vollzieht.

Ideologie oder Technologie – Brecht oder Turing

In der heutigen Diskussion über Interaktivität überlagern sich Fragen nach der gesellschaftlichen Ideologie einer medialen Mensch-Mensch-Beziehung mit denen nach der technologischen Machbarkeit der Mensch-Maschine-Verbindung. Die Wurzeln dieser beiden Bedeutungsfelder reichen weit vor die Entstehung des heutigen Begriffs von Interaktivität zurück. Sie lassen sich bis in die 30er Jahre zurück verfolgen und mit zwei Positionen illustrieren, die kaum gegensätzlicher sein könnten: mit Bertolt Brecht und Alan Turing. Brecht fordert 1932: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. […] Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.« |10 Während Cages Komposition nur die Rezeptionsform des Radios verändert, ohne in das System des Massenmediums einzugreifen, geht Brechts Ansatz zwei Jahrzehnte zuvor noch aufs Ganze und entwirft eine aktive Rolle der Zuhörer als politische Utopie, welche auch die Senderseite des Mediums umfasst. 1929 versucht Brecht mit seinem Hörspiel Der Lindberghflug diese Idee praktisch umzusetzen. Da sich der deutsche Rundfunk dem Konzept zur Hörerbeteiligung aber verschließt, wird sie in der Radiosendung nicht verwirklicht, sondern nur in einer Inszenierung Brechts als Demonstration auf der Bühne vorgeführt.

Alan Turing arbeitet ab 1935 an seiner Theorie einer universellen Maschine, die später in die berühmte Frage mündet: »Können Maschinen denken?« Dabei stellt sich die Frage, wie die Verbindung zwischen einer künstlichen Intelligenz und unserem menschlichen Bewusstsein herzustellen sein könnte. »Wir dürfen hoffen, dass Maschinen schließlich auf allen rein intellektuellen Gebieten mit dem Menschen konkurrieren. Aber mit welchem sollte man am besten beginnen? Viele glauben, dass eine sehr abstrakte Tätigkeit, beispielsweise das Schachspielen, am besten geeignet wäre. Ebenso kann man behaupten, dass es das Beste wäre, Maschinen mit den besten Sinnesorganen auszustatten, die überhaupt für Geld zu haben sind, […] ich meine, dass man beide Ansätze erproben sollte.« |11

Die beiden Thesen stammen aus völlig verschiedenen Diskursen. Turing entwickelt aus der reinen Mathematik die wissenschaftlichen Grundlagen der technologischen Machbarkeit einer Mensch-Maschine-Kommunikation bis hin zur Ununterscheidbarkeit. Brecht hat seine Theatertheorie auf die Medien übertragen und erkennt die sozialen und politischen Wirkungen einer von immer perfekteren Medienmaschinen geprägten Mensch-Mensch-Kommunikation. Doch trotz dieser extrem unterschiedlichen Ausgangspunkte treffen die Fortschreibungen dieser Thesen heute in Form von Informatik und kultureller Medientheorie aufeinander – beispielsweise in der Diskussion über den Zusammenhang zwischen der politischen und der technologischen Funktion des Internet. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden das Konzept der Interaktivität und seine Bedeutung in der Medienkunst als ein Interferenzbereich von Ideologie und Technologie untersucht werden.

Offene oder geschlossene Systeme – John Cage oder Bill Gates

Trotz der angeblich entpersönlichenden Tendenz der neuen Kommunikationstechnologien stehen heute einzelne Namen mehr als je zuvor für Ideen und Programme – dies gilt in der Politik ebenso wie in Wirtschaft und Kultur. In diesem Sinne lässt sich auch das Feld für die weitere Untersuchung von Ideologie und Technologie der Interaktivität durch zwei exemplarische Personen abstecken: John Cage und Bill Gates. Beiden gemeinsam ist die Erkenntnis, dass die Programme und nicht die Apparate letztlich die Weiterentwicklung einer Kunstform beziehungsweise eines Mediums bestimmen. Cages neues Kompositionsprinzip hat schliesslich das gesamte klassische Instrumentarium von Musik und bildender Kunst transformiert und mündet in die Intermediakunst der 60er Jahre, für die es keinerlei vorab fixierte Techniken mehr gibt. Gates hingegen sieht früh die Bedeutung der Software für den kommerziellen Erfolg der Computerhardware und nutzt diese Erkenntnis strategisch zum Ausbau eines Monopols, das ihn mit dem Multimedia-Boom der 90er Jahre zum reichsten Mann der Welt gemacht hat. Beide – Cage und Gates – verbinden zweifellos eine verschiedene Bedeutung mit dieser Aussage. Dies lässt sich an ihren extrem unterschiedlichen Konzepten zur Interaktivität aufzeigen.

Cages Kompositionen definieren meist keine exakte musikalische Mensch-Instrument-Interaktion, sondern geben ein vom jeweiligen Ausführenden zu interpretierendes Feld von Möglichkeiten vor, die durch Elemente von Zufall und Variation zu ständig neuen Ergebnissen führen. |12 Manche Stücke modifizieren die Instrumente (prepared piano) oder überlassen den Ausführenden die Wahl der Instrumente. Durch den Prozess der Aufführung verbindet sich die individuelle Freiheit des Einzelnen zur Modifikation der Struktur mit der daraus resultierenden sozialen Interaktion in der Gruppe von Musizierenden. Diese nicht-hierarchische Form der Kreativität lässt sich mit der so genannten »bottom up«-Struktur vergleichen, in der eine »open source«-Software wie Linux von ihren Nutzern weiterentwickelt wird. In beiden Fällen kann ein vorgegebener Zeichencode so variiert und uminterpretiert werden, dass die Grenze zwischen Autor und Nutzer fließend wird. Der Gegentyp wäre die »top down«-Struktur, die sich in der präzise fixierten Notation einer klassischen Komposition ebenso wiederfindet wie in der proprietären Software, die Bill Gate’s Microsoft Corporation entwickelt und für den die Geheimhaltung des Quellcodes die Basis eines kapitalistischen Monopols bildet. Das heißt, alle Nutzer des Programms arbeiten konform zu den von der Industrie vorgegebenen Interaktionsmustern, so wie die klassische Musikkomposition eine möglichst exakte Beschreibung der Bedienung von Musikinstrumenten vorgibt.

Komposition soll für Cage kein perfektes »Betriebssystem« für Musikinstrumente liefern, sondern einen individuellen und sozialen Kreativitätsprozess in Gang setzen, der sich sukzessive von der Intention seines Initiators ablösen kann. Die Software von Bill Gates und anderen proprietären Systemen hält ihre Nutzer demgegenüber in Unkenntnis der Strukturen, die ihr die »Autoren« eingeschrieben haben. Das Modell des tiefen Geheimnisses aller Kreativität, das dem überkommenen idealistischen Kunstbegriff entlehnt ist, wird nur noch artifiziell aufrecht erhalten. Und statt den hehren Zielen des Genies dient es dem schnöden Mammon des Monopols. Für Cage ist Interaktivität eine ästhetisch und ideologisch begründete Auflösung der Grenze zwischen Autor, Ausführenden und Publikum. Er setzt deshalb Medientechniken wie das Radio, die Schallplatte, das Tonband und später den Computer ein, weil sich in den Informationsstrukturen dieser Apparate die musikalische Produktion und Rezeption überlagern können. Technik soll nicht nur menschliche Arbeit ersetzen, sondern ein kreatives Feld eröffnen. Cage schreibt 1966: »Sind wir ein Publikum für Computerkunst? Die Antwort lautet nicht Nein, sie lautet Ja. Was wir brauchen, ist ein Computer, der uns keine Arbeit abnimmt, sondern die Arbeit vermehrt, die für uns zu tun ist, […] der uns nicht anmacht, […] sondern zu Künstlern macht.« |13

Für Gates ist Interaktivität ein ökonomisch und technologisch bestimmtes Muster, nach dessen Vorgaben Millionen von Menschen ihre Arbeitsprozesse strukturieren. In einem firmeninternen Papier bringt er dies auf den Punkt, wenn er sagt, dass Microsoft mit den menschlichen Usern genauso verfährt wie mit den Computern: Sie werden programmiert. |14 Cage hingegen formuliert bereits 1969, als noch keine kommerzielle, proprietäre Software existiert, das heutige Ideal einer »open source«-Gesellschaft, die kollektiv frei verfügbare Programme schafft und weiterentwickelt: »Computer führen zu einer vergleichbaren Situation wie die Erfindung der Harmonie. Programmbausteine [subroutines] sind wie Akkorde. Man gibt sie jedem, der sie will. Man akzeptiert bereitwillig Veränderungen daran. Programmbausteine verändern sich durch einen einzigen Tastendruck. Wir bekommen eine von der gesamten Menschheit, statt nur von einzelnen Menschen gemachte Musik.« |15

Zweifellos löst heute der Computer das Klavier als meistverbreitetes Tasteninstrument im Heim ab. Aber die Befreiung der Jugend von der oft als Qual empfundenen Klavierübung wird meist nicht durch eine offene Form im Sinne Cages erreicht, sondern durch die freiwillige Selbstkonditionierung in der Interaktion mit industrieller Software wie Computerspielen ersetzt. Dass Cage aus dem Bereich der Kunst und Gates aus dem der Technologie kommt, ist daher bei dieser – zugegebenermaßen gewagten – Gegenüberstellung sekundär. Hinter ihren verschiedenen Modellen von Interaktion stecken im Kern letztlich zwei Entwürfe für unterschiedliche Gesellschaftssysteme. Das jeweilige Prinzip von Offenheit beziehungsweise Geschlossenheit könnte das Leitmotiv für den Bedeutungswandel von Interaktivität im Wechsel von den 60er zu den 90er Jahren liefern. |16

Paradigmenwechsel der Interaktivität von den 60er zu den 90er Jahren

Die Interaktion von Publikum, Werk und Künstler wird in den 60er Jahren zum bestimmenden Element neuer Kunstformen jenseits etablierter Kategorien und Institutionen. »Intermedia« lautet das bereits im ersten Kapitel skizzierte Ideal einer Überwindung von Gattungen und Techniken. Happening und Fluxus setzen an die Stelle eines abgeschlossenen Werkes das Angebot an das Publikum, seine Erlebnisse im Umgang mit Kunst wesentlich selbst zu bestimmen. Das Ziel einer Entgrenzung zwischen Künstler und Publikum und die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Produktion und Rezeption weisen viele Parallelen zur politischen Forderung der 68er-Revolte nach einer Okkupation der Produktionsmittel durch die Konsumenten auf.

Trotz der eingangs skizzierten, über hundertjährigen Vorgeschichte der aktiven Rezeption in der Moderne, räumt der klassische, bürgerliche Kulturbegriff bis heute der Partizipation des Betrachters, Zuhörers oder Lesers nur einen niedrigen Stellenwert ein. Im Konzert, in der Literatur oder in der Malerei wird der kongeniale Nachvollzug des möglichst rein erhaltenen Originals als oberste Maxime gesehen. Dagegen treten die populären Kulturformen von Varieté und Zirkus bis zum Techno-DJ in eine intensive Beziehung mit dem Publikum. Der Versuch der 60er Jahre, Interaktion zu einem Mittel der Avantgardekunst zu machen, war insofern auch der Wunsch, ein als elitär empfundenes Umfeld der bürgerlichen Kultur zu überschreiten und Wirksamkeit auf die Massenkultur zu erreichen. Dem schon genannten Terminus des »offenen Kunstwerks« von Umberto Eco entspricht politisch der von Habermas geprägte »herrschaftsfreie Diskurs«. Das gemeinsame Feindbild all dieser künstlerischen und theoretischen Ansätze ist die Passivität des kulturellen Konsumismus, der als Effekt der Massenmedien und insbesondere des Fernsehens empfunden wird. |17

Ähnliche Modelle offener Interaktion wie in den Künsten werden deshalb für eine neue, politische Rolle der Medien entwickelt. Hans Magnus Enzensberger stellt 1970 in Anlehnung an Brecht die These auf, dass in der elektronischen Technologie ein emanzipatorisches Potenzial zur nicht-hierarchischen Kommunikation enthalten ist. Für ihn können die Medien, wenn sie nur aus ihrer Zweckentfremdung durch das Kapital befreit werden, als Stimulus und Instrument gesellschaftlicher Umbrüche dienen. »Das offenbare Geheimnis der elektronischen Medien, das entscheidende politische Moment, das bis heute unterdrückt oder verstümmelt auf seine Stunde wartet, ist ihre mobilisierende Kraft.« Und durch diese Kraft könnten die Menschen »frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerilleros« werden. |18 Vergleichbare Ideale finden sich in den gegenindustriellen Medieninitiativen, wie sie in der ab 1970 erscheinenden Zeitschrift Radical Software ihr Forum haben.

Der Typ des Hackers liefert zwar die personifizierte Synthese dieser Utopien, jedoch sind die Ursprünge der Hackerbewegung völlig unpolitisch und liefern das drastischste Beispiel für Technologie als Weltanschauung. Ihre Keimzelle wird um 1960 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gelegt, als ein Computer aus militärischen Beständen, der zur ersten Generation von Geräten mit Bildschirm gehört, dem Institut leihweise gratis zur Verfügung gestellt wird. Während Programmierer bis dahin kaum in direktem Kontakt mit dem Computer standen, weil sie ihre Programme auf dem Papier entwickelten und die Maschine dann von technischem Personal mit Lochkarten füttern ließen, entsteht nun – ohne die strikt hierarchische Benutzungsordnung für teuer bezahlte Rechenstunden – in einer Studentengruppe von Computermaniacs der »frei laufende, interaktive, improvisatorische, hands-on-über-alles-Stil« im direkten Dialog mit der Maschine, der heute längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist. |19 Die symbiotische Beziehung mit dem Computer, der für diese Gruppe, deren Mitglieder sich selbst »Hacker« nennen, zum fast einzigen Lebensinhalt wird, nimmt die heute alltäglich gewordene Nähe zur Maschine vorweg, die aus dem Rechenknecht eine Art digitalen Partner werden lässt. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Haltung sind tief greifender, als es die rudimentäre Ideologie erkennen lässt, die der Hacker-Historiograf Steven Levy in der so genannten »Hacker-Ethic« zusammengefasst hat. Hier heißt es unter anderem: »Man kann mit Computern Kunst und Schönheit schaffen. Computer können Dein Leben zum Besseren verändern.« |20

In ihrer weltabgewandten, völligen Versenkung in die Maschinenprogramme entsprechen die Hacker der ersten Stunde dem Ideal einer Kunst als Selbstzweck, einer »l’art pour l’art«, dem die Intermediakunst der 60er Jahre gerade abschwört, um eine Interaktion zwischen Kunst und Leben zu propagieren. Deshalb haben Fluxus und Happening ebenso wie die politischen Bewegungen der 60er Jahre durchweg einen technologiekritischen Ansatz. Doch die Erkenntnis, dass eine bloße Verweigerungshaltung gegenüber den Medien einer Selbstentmündigung gleichkommt, bahnt sich in Kunst und Politik um 1970 gleichermaßen an. Im Umfeld dieser Interferenz von gesellschaftlicher Theorie und massenmedialer Technologie ist die Entstehung des heute »Medienkunst« genannten Phänomens verwurzelt.

In den 60er Jahren soll gerade durch die Kombination von Zielen der Ideologie mit Mitteln der Technologie die Wirkung von Kunst und Medien aneinander gekoppelt werden. Die soziale und kulturelle Utopie liefert das Ziel einer erhofften zukünftigen Funktion der Medien, die eine gesamtgesellschaftliche Veränderung auslösen soll. In den 90er Jahren hat sich diese Relation völlig umgekehrt. Die Medientechnologie ist ihrerseits zum bestimmenden Leitmotiv geworden, aus dem alle sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen hervorgehen sollen. So ist auch die Bedeutung von »Interaktivität« heute wesentlich an die elektronischen Medien gebunden. Die Technik des Interface und die Regeln der Software geben den Rahmen einer solchen, technologisch definierten, Interaktion vor, die sowohl zwischen Mensch und Mensch mittels der Maschine als auch nur zwischen Mensch und Maschine stattfinden kann. Die »mobilisierende Kraft« der Medien, die Enzensberger noch als Angriffspotenzial gegen die Macht der Industrie ansieht, ist längst zur Werbung für Telekomaktien und Mobiltelefone geworden, in der die gleichen Heldenbilder von Tänzern, Fußballspielern oder Guerilleros Verwendung finden. Andererseits ist das zweckfreie, rein der Sache selbst gewidmete Hackerethos seit den 80er Jahren von einer teils kriminellen, teils kommerziellen Zwischenwelt an den Rand gedrängt worden.

Das Gleiche gilt für die Idee der Interaktivität durch Interdisziplinarität, die in den 90er Jahren von einem Paradigma der Kultur zu einem Paradigma der Technologie umdefiniert wird. Der Bereich des Digitalen kennt keinen prinzipiellen Unterschied von Text, Ton und Bild. Lediglich die Datenmengen differieren. Die Verbindung der verschiedenen Medien zu einem Multimediaprogramm bedarf also keiner ästhetischen Legitimation wie sie die Intermediakunst propagiert, sondern entspricht dem Grundprinzip der digitalen Technik. Es stimmt zwar, dass die Aufteilung der künstlerischen Gattungen mit den sie vermittelnden Medien zusammenhängt. Doch der Glaube, dass sich mit einer gemeinsamen medientechnischen Plattform zugleich auch ein inhaltlicher oder ästhetischer Austausch installieren ließe, erweist sich weitgehend als Scheineffekt der Oberflächenähnlichkeit. |21

Die Haltung der 90er Jahre, soziale und kulturelle Veränderung als Effekt der Medien zu begreifen, statt, wie noch in den 60er Jahren, den Einsatz von Medien als Unterstützung für ebensolche Zwecke herbeizuwünschen, hat auch ihre historischen Wurzeln. Diese reichen von der Technikfaszination der italienischen Futuristen bis hin zu Marshall McLuhan, der schon 1964 die Medien als die eigentliche, nur von den Künstlern nicht anerkannte Verwirklichung der in den Künsten formulierten Träume einer neuen Wahrnehmungsform beschreibt. |22 Ihre heutige wissenschaftlich fundierte Form findet sie in Medientheorie-Ansätzen wie dem Friedrich A. Kittlers, laut dem es uns nur möglich ist, den »Output von Medien weiterhin mit Kunst zu verwechseln, weil bei technischen Geräten Design und Schrauben dafür sorgen, dass sie black boxes bleiben«. Denn die Deckelhauben der Geräte sind für Kittler nicht von Künstlern, sondern »schon laut Beschriftung nur vom Fachmann zu öffnen. Was darunter abläuft, in den Schaltkreisen selber, ist keine Kunst, sondern ihr Ende in einer Datenverarbeitung, die vom Menschen Abschied nimmt.« |23

Manche der in der Medienkunst der 90er Jahre erprobten und entwickelten Formen von Interaktivität mögen demgegenüber tatsächlich naiv erscheinen und vor allem völlig abhängig von den Vorgaben der Technologie. Doch zeigt ein Rückblick auf die Anfänge künstlerischer Interaktionsformen mit Medien, dass diese oft tief unter die Deckelhauben der Geräte griffen. Künstler entwerfen sogar, schon lange bevor Medien als fertige Apparate unter Deckeln verschwinden und damit Allgemeingut werden, entsprechende Wahrnehmungs- und Handlungsmodelle, die dann erst Jahrzehnte später massenmedialer Alltag werden. In diesem Sinne sieht bereits Walter Benjamin die Sprach- und Bildmontagen der Dadaisten als Antizipation der Medieneffekte des Films. |24 Seit den Futuristen hat die Avantgardekunst die Technik um ihre Massenwirkung beneidet, doch zugleich auch ihre Wirkungen und ihre Weiterentwicklung schon weit im Voraus erahnt. Deshalb kann die Diskussion um interaktive Kunst in den 90er Jahren auch nur vor dem Hintergrund der vorhergehenden Entwicklungen, insbesondere der 60er Jahre, wirklich verstanden werden.

Beispiele mediengestützter Interaktion der Intermediakunst der 60er und 70er Jahre

Musik benötigt zur ihrer elektronischen Verarbeitung wesentlich geringere Datenmengen und Speicherkapazitäten als die bildenden Künste. Deshalb ist das Radio älter als das Fernsehen und das Tonband älter als der Videorekorder. Zahlreiche Ansätze künstlerischer Arbeit mit Medien finden darum in der Musik ihre erste klare Ausprägung. Dies gilt auch für die Idee der Interaktivität, wie die Vorbildrolle von John Cage zeigt. Sein Ausgangspunkt ist dabei eine enge Wechselbeziehung zwischen Medienerfahrung und künstlerischer Erfahrung. Sein berühmtes Stück 4'33'' von 1952 lässt sich gerade durch den Verzicht auf alle Technik als das Ideal des offenen Kunstwerks verstehen. Nichts ist endgültig, alles hängt von den jeweiligen Bedingungen der Aufführung ab. Die Geräusche des Publikums und der Umgebung sind der Inhalt von viereinhalb Minuten gesteigerter Sensibiliät. Doch schon ein Jahr zuvor, in der genannten Komposition Imaginary Landscape No. 4, ersetzt das reine Lauschen den musikalischen Inhalt – hier allerdings noch vermittelt über die als Instrumente eingesetzten zwölf Radioapparate, welche die massenmediale Vielfalt der Sender im Moment der Aufführung als ästhetisches Rohmaterial erlebbar machen. Insofern könnte man in heutiger Terminologie sogar 4'33'' als dessen »unplugged«-Version bezeichnen. |25 Die »interaktive« mediale Wahrnehmungsform des TV-Zapping, die ebenfalls aus der individuellen Selektion, der »Montage« eines neuen »Films« aus verschiedenen TV-Programmen, in Echtzeit entsteht, beruht genauso auf der Synchronizität und Redundanz verfügbarer Kanäle wie Cages Imaginary Landscape No. 4. Diese Analogie von experimenteller Komposition der 50er und alltäglicher Rezeption der 90er Jahre wäre ein Beispiel für die genannte Antizipation von Medieneffekten durch künstlerische Modelle.

Cages Ansatz ist zwar prägend für das gesamte Umfeld der intermedialen Kunst der 60er Jahre, seine Thematisierung der Medien wird im Umfeld von Happening und Fluxus jedoch kaum aufgegriffen. Die große Ausnahme ist Nam June Paik, dessen Exposition of Music – Electronic Television 1963 in Wuppertal schon in ihrem Titel den Wechsel des Künstlers von der neuen Musik zur Arbeit mit dem elektronischen Bild zeigt. Seine verschiedenen Versionen des hier vorgestellten »participation TV« sind der erste Entwurf für eine Interaktion des Zuschauers mit dem elektronischen TV-Bild. Durch Manipulationen der Schaltkreise von simplen TV-Apparaten erreicht er komplexe Bildstrukturen, die vom Betrachter beinflusst werden können und die der industriellen Vermarktung von entsprechenden Video- und Multimediaapparaten um Jahrzehnte vorauseilen. |26 Bei nur einem Fernsehkanal bestand in Deutschland die einzige mögliche Interaktion des TV-Zuschauers mit dem Programm bis zur Einführung des ZDF, ebenfalls im Jahr 1963, in der Bedienung des Ein/Aus-Schalters.

Das mit Happening und Fluxus entstandene Ideal einer Kunst ohne Hierarchie von Betrachter und Schöpfer erweist sich als Übergangsphase, die zwar entscheidend zur Ablösung des statischen Werkbegriffs der Bildkünste beiträgt, in ihrer völligen Offenheit und Unabschließbarkeit jedoch auf Dauer kein tragfähiges Modell für konkrete Resultate liefert. Vor allem kann das Bedürfnis der Rezipienten nach Symbolen und Fiktionen damit nicht gestillt werden. Mit dem Übergang vom Happening der 60er zur Performance der 70er Jahre wird die Interaktion mit dem Publikum entweder völlig aufgehoben oder stark formalisiert und ritualisiert. Bruce Nauman fasst diesen Wechsel in die deutlichen Worte: »Ich misstraue der Publikumsbeteiligung.« |27 Schon im ersten Kapitel wurde dargestellt, wie sich Naumans Closed-Circuit-Installation Live-Taped Video Corridor von 1970 aus einer Performance und einer skulpturalen Installation entwickelt und den Betrachter durch die Irritation über seine An- oder Abwesenheit im Videobild eher zum Versuchsobjekt anstatt zum Mitspieler macht. |28 Deshalb kann Nauman als Vorläufer einer Haltung gelten, die statt zur kreativen Partizipation genau zum Gegenteil führt: einer radikalen Konditionierung des Betrachters durch das Werk, das ihn auf seine eigene Körper-Bild-Erfahrung zurückwirft. Auf ähnliche Weise verwenden in den 70er Jahren unter anderen Dan Graham, Peter Campus und Peter Weibel die Videotechnik, um den Betrachter mittels der Closed-Circuit-Installation mit seinem eigenen Bild zu konfrontieren. Dan Graham untersucht dabei vor allem die Möglichkeiten der Zeitverzögerung (Present Continuous Past[s], 1974) sowie die Bezüge von Architektur und Videobild. Peter Campus arbeitet in dem Stück Interface von 1972 mit den videotechnischen Spezifika wie zum Beispiel der Überlagerung von Spiegelung und Projektion. Peter Weibel stellt in Beobachtung der Beobachtung: Unbestimmtheit von 1973 die Monitore und Kameras in eine solche Konstellation, dass der Betrachter sich zwar von hinten, aber trotz aller Verrenkungen nie von vorne sehen kann. Zweifellos sind diese Werke zusammen mit Naumans Live-Taped Video Corridor die ersten im Kunstkontext einer Ausstellung erfolgreichen interaktiven Installationen. Sie sind jedoch nicht mehr auf die Partizipation des Publikums im Sinne der 60er Jahre angelegt, sondern eher Situationen der Reflexion über die Beziehung von Betrachter und Medium. Sie stehen auch für den Verzicht auf eine massenmediale Ausstrahlung des Mediums Video, um stattdessen in fast symbolischer Weise den »geschlossenen Kreislauf« des Kunstsystems zu perpetuieren.

Das Gegenbeispiel zu dieser ästhetisch-medialen Selbstreflexion liefert das schon im vorigen Kapitel behandelte Tapp- und Tastkino von Valie Export aus dem Jahre 1968. In ihrer als »expanded movie« bezeichneten Straßenaktion trägt die Künstlerin einen Kasten um ihren Körper und erlaubt es den Passanten, durch einen Vorhang an der Vorderseite des Kasten zu greifen, um ihre Brüste zu befühlen. »Die Vorführung findet wie stets im Dunkeln statt. Nur ist der Kinosaal etwas kleiner geworden. Es haben nur zwei Hände Platz«, schreibt Valie Export dazu. |29 Der Betrachter wird hier auf noch drastischere Weise konditioniert als in Naumans Live-Taped Video Corridor, und ebenso wird die Grenze zwischen öffentlichem Raum und Privatsphäre in Frage gestellt. |30 Der Bezug zum Medium Film ist auf die metaphorische Ebene verlegt – dadurch zeigt sich die sinnliche Deprivation des zum Betrachter im Sessel reduzierten Kino- oder Fernsehzuschauers umso deutlicher. »Interaktivität« ist hier als direkte sinnliche Erfahrung das Gegenmodell zu der medial geprägten Einseitigkeit der Wahrnehmung. Der von den Futuristen schon 1921 geforderte »Taktilismus« zur Erweiterung des Spektrums der Künste hat sich bei Export zu einer Kritik an der gesellschaftlichen und sozialen Rolle der Medien gewandelt. Zweifellos findet Exports Straßenaktion nicht zufällig im Jahr 1968 statt, sondern ist Teil der Forderung nach einem Strukturwandel der Öffentlichkeit, um einen Buchtitel von Habermas zu zitieren, der in der 68er-Bewegung kumulierte.

Fiktion und Funktion der Multimediatechnologie und des Cyberspace

Bisher wurden vor allem Beispiele für die interaktive Umnutzung von Medien genannt, die eigentlich der Distribution und Reproduktion dienen (Video, TV, Radio). Die künstlerischen Ansätze richten sich dabei bewusst gegen den massenmedialen Konsum dieser Medien, der mehr oder weniger subversiv modifiziert wird. Dahinter steht von Brecht bis Paik die Forderung nach einer Veränderung der Einwegstruktur dieser Massenmedien. In der computerbasierten Multimediatechnik ist hingegen die Interaktion von Benutzer und Apparat im Medium selbst angelegt. Durch die Vernetzung wird der Computer zum zwischenmenschlichen Kommunikationsmedium, das tendenziell alle bisher getrennten Medien in sich vereinigt. Die aktuelle technologische Entwicklung einer vernetzten virtuellen Realität führt zur Synthese der zuvor getrennten Entwicklungsstränge computerbasierter Simulation beziehungsweise Kommunikation. Die Wurzeln für diese am Ende der 90er Jahre greifbar werdenden, ebenso virtuellen wie realen Erlebniswelten liegen in den 60er Jahren. Dies gilt gleichermaßen für die technologischen Entwürfe wie für die Thesen zu ihren möglichen sozialen, ästhetischen und politischen Implikationen, in denen fast alle heutigen Ideen zum Cyberspace schon vorweggenommen sind.

Die technischen Voraussetzungen für den heutigen Stand der Mensch-Maschine-Kommunikation werden im Wesentlichen durch militärische Entwicklungen geschaffen. Bis in die 60er Jahre sind die meisten Computer abstrakte Rechenapparate, die Zahlenkolonnen und Lochkarten verarbeiten. Die Einführung des Bildschirms führt dann zu dem bereits genannten neuen, intuitiven hands-on-Programmstil, den die Hacker maßgeblich entwickeln. Der Bildschirm erlaubt erstmals auch eine rein visuelle Darstellung komplexer Programmabläufe. Seine Koppelung mit einem Leuchtstift auf dem wegen der atomaren Bedrohung für die Flugabwehr entwickelten Computer Whirlwind ermöglicht in den 50er Jahren erstmals grafische Interaktion in Echtzeit. |31 Mit der Verbreitung dieses Prinzips in den 60er/70er Jahren wird auch für Nicht-Programmierer ein visueller, intuitiver und nicht zeitverzögerter Mensch-Maschine-Dialog möglich. Als Ivan E. Sutherland 1966 das für militärische Beobachtungszwecke gebaute Head-Mounted-Display mit der simplen computergenerierten Wireframe-Darstellung eines Raumes verbindet, enthält diese Kombination schon die wesentlichen Elemente der Virtual-Reality-Technik, zu der nur noch schnellere Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität fehlen. Ebenso basieren die Anfänge des Internets in den 60er Jahren auf dem 1968 installierten dezentralen ARPA-Net, das der Aufrechterhaltung militärischer Nachrichtenverbindungen im Fall eines Atomschlags dienen soll. Die beiden Komponenten des Cyberspace, die heute zur Vernetzung virtueller Räume führen, sind also aus Rüstungsetats gegen die Bombe in den Zeiten des Kalten Krieges finanziert worden. Dennoch sind sie kein rein militärisches Produkt. Dies zeigt beispielsweise die überraschende Synchronizität dieser technologischen Entwürfe mit den künstlerischen Thesen zu deren Potenzial. Ivan E. Sutherlands im Jahre 1965 in Harvard verfasste erste Beschreibung eines »ultimative display« weist weitgehende Ähnlichkeiten zu dem vom Schriftsteller Oswald Wiener ebenfalls 1965 in Wien entworfenen Konzept des »Bio-Adapters« auf, das laut Peter Weibel »der sprachliche Entwurf eines Datenanzugs« ist. |32 Interessanterweise arbeitet also Sutherland an der Realisierung eines Mensch-Maschine-Interface, während Wiener gleichzeitig, aber völlig unabhängig davon, die kulturellen Konsequenzen einer solchen Synthese untersucht. Die Differenz zwischen technologischer Praxis und theoretischer Analyse liegt nicht im Glauben an die Machbarkeit, sondern in dem damit verbundenen Erwartungshorizont.

Oswald Wiener stellt dazu zunächst fest: »die mit dem sammelnamen der kybernetik belegten neueren wissenszweige haben binnen so kurzer zeit sätze hervorgebracht, die sich nahezu ohne abwandlungen auf soziologische gegebenheiten anwenden lassen, dass der verdacht erlaubt ist, man habe schon bei ihrer formulierung die setzung fundamentaler zusammenhänge zwischen den bedürfnissen der technologie und denen des staates im auge gehabt.« |33 Die Konsequenz hieraus ist die »befreiung von philosophie durch technik« mittels des Bio-Adapters, der »dem gesund-heroischen ideal eines den kosmos regierenden homo sapiens erstmalig genügt, und zwar durch trockenlegung des kosmos einerseits, und zum anderen durch liquidation des homo sapiens«. |34 Ein solches Szenario wird in seinen Konsequenzen dann im Film Matrix von 1999 ausgemalt.

Wieners zwar affirmativ formulierter, aber dennoch fast nihilistischer Skepsis steht bei anderen Künstlern eine eher naive Technikbegeisterung gegenüber, die den Utopien der Technologieentwickler näher steht. So heißt es etwa in dem Manifest Die Zukunft der Kunst von Nicolas Schöffer aus dem Jahr 1968: »Die Informationsnetze müssen den wahren ästhetischen Produkten geöffnet werden. Dazu bedarf es aber einer neuen Kunst-Technologie und einer völligen Umwandlung der Beziehungen zwischen dem herstellenden Künstler und dem verbrauchenden Publikum. […] Wir können uns mit Sicherheit heute schon für die Zukunft anstelle des kleinen Bildschirms einen Raum denken, der den Verbraucher allseitig umgibt. In diesem Raum wird der Verbraucher von audiovisuellen (olfaktorischen, taktilen) Programmen umgeben sein, er wird hier in einem richtigen, durch und durch ästhetischen Klima baden, das er selbst nach seinen Wünschen dosieren, neu zusammenstellen und programmieren kann. Dieses Bad wird ihn in die Lage versetzen, sich immer mehr zu entfalten, zu vervollkommnen, zu sensibilisieren, zu konzentrieren und auszudrücken; es wird zu einer neuen menschlichen Hygiene führen. Diese ästhetische Hygiene ist auch für die Gemeinschaften, die sozialen Gruppen unentbehrlich, die in Stadtgebieten verschiedener Ausdehnung wohnen.« |35 Was Schöffer jedoch in guter alter futuristischer Manier ignoriert, ist die marginale Rolle, welche Kunst und Künstler bei der faktischen Entwicklung des von ihm beschriebenen Weltmodells spielen werden. Seine »ästhetische Hygiene« der Technologie hat heute zweifellos einen bedrohlichen Unterton erhalten.

Es ist verführerisch, die technischen Erweiterungen der Mensch-Maschine-Interaktion mit den »Entgrenzungen« in der Kunst der 60er Jahre in Beziehung zu setzen. Ende der Sechziger wird diese Synthese von den ersten Veranstaltungen zu Kunst und Technologie propagiert. |36 Ohne Zweifel haben Schöffer, Sutherland und Wiener ähnliche technologische Erwartungen an die Zukunft, doch sie haben zugleich radikal verschiedene Thesen zu deren sozialen, psychischen und politischen Auswirkungen. Es wird erneut deutlich, dass Interaktivität immer sowohl für eine Technologie als auch für eine Ideologie steht. Tatsächlich überlagern diese Felder sich bis heute: Der Begriff »Cyberspace« wird 1981 in der Kurzgeschichte Burning Chrome von dem Science-Fiction-Autor William Gibson geprägt und 1984 durch dessen Roman Neuromancer bekannt. Die empathischen, ja teils ekstatischen Bücher von Wissenschaftlern wie Donna Haraway oder populären Autoren wie Howard Rheingold haben mehr zur Cybereuphorie im öffentlichen Bewusstsein der 90er Jahre beigetragen als die praktischen Erfahrungen mit der Technologie. Dieser »Hype« stimuliert jedoch wiederum die technologische Entwicklung und vor allem das Bedürfnis danach. Die Fiktion von literarischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zukunftsentwürfen und die Entstehung der darin beschriebenen technologischen Funktionen bedingen sich gegenseitig. Fiktion und Funktion des Cyberspace entstehen in einer ständigen Rückkoppelung.

Dennoch sind die realen Motive und damit zugleich der ideologische Hintergrund für die Entstehung der Technologie der virtuellen Realität klar zu benennen. Die praktische Umsetzung der Entwürfe wird seit den 60er Jahren wie gesagt vor allem aus den Militäretats bezahlt. Unabhängig davon, ob sie von Wissenschaftlern, Schriftstellern oder Künstlern stammen, beruhen die philosophischen und ästhetischen Entwürfe zum Cyberspace also auf einer anderen Ideologie als ihre faktische technische Umsetzung. Die eine Ideologie sucht die ästhetische Entgrenzung zwischen Individuum und Kollektiv oder Autor und Rezipient, die andere, ihr denkbar entgegengesetzte, zielt auf die militärische Grenzüberschreitung, wobei hinter der Grenze der durch diese Ideologie definierte Feind steht. Da sich die ästhetischen Ideen einer Entgrenzung der für andere Ziele entwickelten Apparate bedienen, steht Kunst im berechtigten Verdacht, nur Abfallverwertung oder gar Pseudo-Legitimation von Militärtechnologie zu sein. Dies zeigt sich auch am Beispiel der Computerspiele, die für die breiteste weltweite Nutzung der Technologien stehen. Als Spiele sind sie der Kombinatorik der Künste verwandt, doch von ihrer ideologischen und psychologischen Basis her sind sie bekanntermaßen zum Großteil die Illustration des militärischen Ursprungs der Technologie. |37 Wenn Künstler ihr ästhetisches Streben nach Entgrenzung mit den Mitteln der militärisch entwickelten Technologie fortsetzen, ohne sich dieses Konflikts bewusst zu sein, ist dies bestenfalls naiv, schlimmstenfalls opportunistisch. |38

Beispiele für mediengestützte Interaktionsformen der 80er und 90er Jahre

»Virtuelle Realität und Cyberspace sind Ideen der 60er Jahre, auch wenn ihre Technologie erst Ende der 80er Jahre realisiert wurde«, stellt Peter Weibel fest. |39 Weibel gehört, ebenso wie Jeffrey Shaw und Valie Export, zu den Künstlern, die mit ihrer Arbeit an Interaktionsformen eine Brücke zwischen den Ansätzen der 60er und der 90er Jahre schlagen. Dabei übergeht er aber ebenso wie Shaw und Export den ideologischen Paradigmenwechsel zwischen den ästhetisch-sozialen Entgrenzungsideen der 60er zu der technologischen Interaktivität der 90er Jahre. Dies mag sich teilweise dadurch erklären lassen, dass in den von Konzept und Minimalismus bestimmten 70er Jahren ebenso wie in den postmodern rückwärts gewandten 80er Jahren der Interaktionsgedanke fast völlig aus der Kunst verschwindet und erst durch die Technologieentwicklung in den Neunzigern erneut aufgegriffen wird.

Ende der 80er Jahre führen erhöhte Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität der Computer zur realistischen 3D-Animation in Echtzeit. Über Interfaces wie Datenhandschuh und Cyberhelm wird das körperliche Eintauchen in den Datenraum möglich. Auf dieser Grundlage entwickeln sich in den 90er Jahren verschiedene Modelle für die Interaktion von Mensch und Maschine, von Realraum und Datenraum. Die meisten dieser Ansätze zeichnen sich durch eine aufwändige Technologie aus und werden in Zusammenarbeit mit Medieninstitutionen, Hochschulen oder der Industrie realisiert. Die Kommentare zu den kunstbezogenen Projekten betonen durchweg die Aspekte der technisch-ästhetischen Innovation und der Recherche in Zusammenarbeit von Techniker und Künstler. Dagegen findet der in der Videokunst der 60er/70er Jahre obligatorische Anspruch auf einen emanzipatorischen oder medienkritischen Ansatz kaum Erwähnung. Einige der typischen Modelle der Mensch-Maschine-Interaktion seien kurz skizziert und zum Teil in Relation zu außerkünstlerischen Parallelen gesetzt. |40

a) Interaktion mit einer Videostory, deren Ablauf vom Betrachter bestimmt wird:

Diese Stücke gehören zu den ersten erfolgreichen Beispielen technischer Interaktivität, die noch in den 80er Jahren entstehen und nicht zur Domäne des Cyberspace im eigentlichen Sinne gehören. Hier werden Video- und Computertechnik verknüpft, um statt einer geradlinigen Narration eine Geschichte mit mehreren Varianten und Kreisen zu ermöglichen, die dem Betrachter Wahlmöglichkeiten zum Fortgang der Story bietet. Lynn Hershman setzt in der Pionierarbeit Lorna (1983/84) den Betrachter in den gleichen Raum wie die Darstellerin, über deren Schicksal er per Fernbedienung entscheidet. In ihren späteren Installationen thematisiert sie aus einer spielerisch-feministischen Haltung heraus vor allem die sexuelle und erotische Dimension der Interaktion, welche den Betrachter zum Mitspieler oder Voyeur macht (Deep Contact 1989/90, A Room of One’s Own 1992). Grahame Weinbrens Installationen entwickeln komplexe Beziehungen zwischen mehreren Ebenen der Erzählung und arbeiten auf ein interaktives Kino hin (The Erl King 1986, Sonata 1991/93). Dass solche Ansätze auch zu einer kollektiven Arbeit ausgebaut werden können, zeigt das Videolabyrinth, das 1988 von den Videomacherinnen Rike Anders, Ilka Lauchstädt, Mari Cantu und dem Programmierer Martin Potthoff gemeinsam entwickelt wird und drei interaktive Spielhandlungen enthält, die von Fragen, Quizaufgaben oder Punktevergaben unterbrochen werden. Während sich diese Arbeit in Deutschland noch mit computergesteuerten Videotapes behelfen muss, was zu langen Wartezeiten zwischen den Sequenzen führt, nutzen Weinbren und Hershman die in den USA verfügbare Videodisktechnik, die sich aber auf dem Massenmarkt nie durchsetzen konnte. Erst mit der CD-ROM wird Anfang der 90er Jahre ein interaktives Medium für den Massenmarkt verfügbar, dessen Datenkapazität jedoch für längere Videostorys nicht ausreicht.

Die Versuche der Unterhaltungs- und Fernsehindustrie, interaktives Kino und Fernsehen zum Massenmedium zu machen, haben bisher noch keinen wirklichen Durchbruch erreicht. |41 Dies mag zwar zum Teil an der zu komplizierten Bedienung liegen, allerdings lässt der bisherige kommerzielle Misserfolg sämtlicher Modelle von interaktiven Massenmedien (von der CD-I bis zum Digital-TV) fragen, inwieweit das Bedürfnis des Publikums nicht doch eher auf lineare Storys fixiert bleibt. |42 Auch die dramaturgischen Formen einer interaktiven Narration stecken immer noch in den Anfängen.

Deshalb ist ein massenmedialer Erfolg von narrativer Interaktivität wohl erst mit einem Generationswechsel sowohl der Nutzer wie der Technologie zu erwarten: als Synthese von Computerspiel und Digitalkino. Bis dahin bleibt die beliebteste Form der Interaktion mit linearen Abläufen nach wie vor das Zapping, das sich aber als sozusagen anarchische Individualmontage aller Steuerung oder Strukturierung entzieht. Aus dem destruktiven Prinzip des Zapping eine konstruktive Methode der Interaktion zu machen, versucht Oliver Hirschbiegels TV-Krimi Mörderische Entscheidung, dessen zwei Handlungsstränge 1991 parallel auf ARD und ZDF gesendet werden. Auch der nicht-lineare Film Nomad (1998) von Petra Epperlein und Michael Tucker nutzt die DVD-Technik, um dem Betrachter die Wahl zwischen drei parallel, aber nicht interaktiv ablaufenden Versionen zu bieten.

b) Das geschlossene System einer Datenwelt, die vom Betrachter erkundet wird:

Das klassische Grundmodell der 3D-Interaktion verwendet zum Beispiel Jeffrey Shaw in seinen Installationen The Legible City von 1988 und The Virtual Museum von 1991. Ähnlich der Erkundung einer Stadt oder eines Museumsgebäudes durch den Besucher wird hier eine unveränderliche Datenlandschaft durchquert. Entscheidend ist bei Shaw die Qualität des Interface, das den Betrachter von der Tastatur oder der Maus löst, um ihn auf ein Fahrrad oder einen Kippsessel zu setzen, was ihm eine intuitive Übertragung alltäglicher Körperbewegungen in die Datenwelt ermöglicht. Es besteht eine gewisse Nähe zu Infosystemen wie Museumsdarstellungen auf CD-ROM oder interaktiven Stadtplänen, die dem Fahrer eines Autos den Weg durch eine unbekannte Stadt zeigen. Vorläufer all dieser Systeme ist die Ende der 70er Jahre am MIT Cambridge durch die Architecture Machine Group entwickelte Aspen Movie Map. Vor allem die Idee eines »virtuellen Museums« hat große Popularität erreicht. Die Metapher des Museumsbesuchs findet sich auf so verschiedenen Produkten wie Software-Demos und populärwissenschaftlichen CD-ROMs. André Malraux’ Vision des »musée imaginaire« scheint erst in der digitalen Technik ihr selbstverständliches Medium gefunden zu haben. Ein Weg, den Mangel an kommunikativen Prozessen mit der »musealen« Datenwelt zu kompensieren, liegt in der Steigerung der illusionistischen Qualität, die zu neuen Erlebnisräumen führt, die eine komplette Immersion des Betrachters erlauben. Solche Hightech-Installationen gehören jedoch nur noch bedingt in den Kunstkontext, sondern liegen eher schon im Feld der Scientific Visualisation. |43 Es zeigt sich eine Traditionslinie, die auf das Panorama des 19. Jahrhunderts zurück geht. |44 Ebenso wird jedoch klar, dass Illusion und Interaktion sich letztlich gegenseitig ausschließen.

c) Interaktion zwischen Körper und Datenwelt:

Alle Techniken der Virtual Reality bilden eine Erweiterung der Wahrnehmung und stellen eine Verbindung der Datenstruktur mit dem Körper her. Die Entwicklung solcher Interfaces ist in den 90er Jahren eine der kreativsten Schnittmengen von künstlerischen und technologischen Ansätzen. Das klassische Set von Datenhandschuh und Virtual-Reality-Brille erweist sich in Ausstellungssituationen als nicht praktikabel, weil es zu gewöhnungsbedürftig und zugleich immer nur von einem Besucher nutzbar ist. Eine Paraphrase der musealen Ausstellungssituation liefert der Zerseher (1990–91) von Art + Com, bei dem ein Renaissance-Gemälde (Junge mit Kinderzeichnung in der Hand von Giovanni Francesco Caroto) als digitale Reproduktion durch den Blick des Betrachters aufgelöst wird. Der für medizinische und militärische Zwecke entwickelte »Eyetracker« registriert die Blickbewegungen und macht so die medientechnische Umsetzung der aktiven Rolle des Kunstbetrachters zumindest in einer symbolischen Zerstörung möglich. Einen direkten haptischen Zugriff auf ein digitales Bild erlaubt Peter Weibels Installation Das tangible Bild von 1991. Diese kann auch als Mensch-Maschine-Version von Valie Exports Mensch-Mensch-Schnittstelle des Tapp- und Tastkinos verstanden werden, womit der Wechsel der Paradigmen von den 60er zu den 90er Jahren nochmals deutlich wird. |45 In Der Vorhang von Lascaux (1993) führt Weibel diese Verschmelzung von Bild und Betrachter fort und bettet sie ein in ein philosophisches Konzept über die Geschichte menschlicher Wahrnehmung von der Höhlenmalerei der Urzeiten über Platos Höhle bis hin zum Cyberspace. |46 Eine Rückkoppelung zwischen Körper und Daten findet in Ulrike Gabriels Installation Breath (1992/93) statt. Über einen Sensorgürtel beeinflusst die Atmung des Betrachters die computergenerierte Projektion der kristallin-amorphen Bildstrukturen und den Sound. Diese sollen wiederum auf den Betrachter zurückwirken, um so ein Bio-Feedback zwischen Mensch und Maschine in Gang zu setzen. Der Schritt zur Verbindung von menschlicher und technischer Aktion wird in den Ansätzen für eine interaktive Choreografie getan. Aus einer direkten Zusammenarbeit von Medienkünstler und Choreograf entstehen bei Christian Möller und Stephen Galloway die Electro Clips (1994) und bei Michael Saup und William Forsythe das Binary Ballistic Ballet (1994).

Eine Pionierleistung der Körper-Computer-Interaktion ist David Rokebys Klanginstallation Very Nervous System, dessen Reaktion auf Körpersprache er von 1982 bis 1995 ständig weiterentwickelt. Es existiert in verschiedenen Versionen für unterschiedliche Einsatzfelder: als Ausstellungsstück zur Interaktion mit Besuchern, als interaktives Instrument für Aufführungen mit Musikern und Tänzern – ja es kommt sogar im medizinischen Bereich zum Einsatz und ermöglicht einer völlig gelähmten Frau die Kommunikation mit der Außenwelt über ihren Lidschlag. Insofern ist es nicht nur ein Werk, sondern vor allem ein Werkzeug, ein »Tool« für multiple Anwendungen, dass sich erst durch seine Nutzer mit Inhalt füllt. Spektakulärer sind die medialen Körperinszenierungen von Stelarc, der seit Ende der 80er in zahlreichen Selbstversuchen Medientechnik temporär in seinen Körper integriert. Beispielsweise steuern externe Sensoren die Bewegungen seines Arms, die wahlweise von Internetusern oder von einem Echo der Übertragungszeiten im Netz animiert werden (Fractal Flesh 1995, Ping Body 1996). McLuhans Dictum Medien seien »extensions of man« wird hier so wörtlich genommen, dass der Körper seinerseits zur Extension der Medien wird. Zwei diametral entgegengesetzte Ansätze: Stelarc arbeitet an der Implementierung des Maschinellen in den Körper, Rokeby an der körperhaften Reaktionsfähigkeit der Maschine. Beide erproben dabei im Grenzbereich von Kunst, Physiologie und Software immer neue Aspekte eines fast alchemistisch-unabschliessbaren Lebenswerks. Dies trifft auch auf weitere Pioniere der interaktiven Kunst zu, etwa Myron Kruger der schon seit 1974 an der Perfektionierung seiner Installation Videoplace tüftelt, um mit ihren zahlreichen Anwendungsmodi für das Spiel von Körper und elektronischem Bild den Computer immer humaner scheinen zu lassen.

d) Ein Datensystem mit einer Eigendynamik, die sich durch die Interaktion weiterentwickelt:

Die Lernfähigkeit von Maschinen gilt seit Turing als zentrale Voraussetzung künstlicher Intelligenz. Auch auf Lowtech-Niveau besteht eine Vielzahl von Modellen, dem »Werk« ein Eigenleben gegenüber dem Betrachter zuzusprechen. Die Interaktion mit Peter Dittmers Installation Die Amme (seit 1992) basiert lediglich auf Sprache und verwickelt den Benutzer über die Tastatur in einen komplexen Dialog, der bis zur Erregung der Maschine und symbolischen Verschüttung von Milch in einer großen Vitrine führen kann. Die Dialogfähigkeit der Software wird über die Dauer der Benutzung ständig erweitert und bereichert. Durch die geringe Datenmenge von Sprache ist nur ein PC nötig, aber der plastische Aufbau der Milchvitrine entschädigt für das fehlende Hightech. Das Grundprinzip des Turing-Tests wird hier deutlich in seiner Trennung von rationaler und libidonaler Funktion gezeigt: Die Verwechslung von Mensch und Maschine ist im Sprachdialog möglich, aber aufgrund der mütterlichen Milch unwahrscheinlich.

Daniela Plewes Installation Muser’s Service (1994–95) basiert ebenfalls auf einem sprachlichen Austausch, doch statt frecher Antworten wie bei der Amme liefert der PC hier durch die Bildung von freien Assoziationsketten zwischen zwei vom Nutzer einzugebenden Begriffen eine Hilfe zum Tagträumen (englisch: to muse). Dass Computer menschliche Tätigkeiten übernehmen, ist eine Binsenweisheit. Doch wie steht es um Tagträume oder gar Grundsatzentscheidungen? In Ultima Ratio bietet Daniela Plewe hierfür ein Modell mit verschiedenen Modi zwischen moralischem Zwiespalt und rationalem Kalkül an. Sie sagt dazu: »Das (modifizierte) Decision-Support-System von Ultima Ratio toleriert im Gegensatz zur klassischen Logik (aber wie andere KI-Systeme auch) Widersprüche und Ausnahmen zu Regeln. […] Der Besucher muss seine Intuitionen explizieren, verspürt dabei womöglich den Wunsch, immer weiter verfeinern zu wollen, ad finitum, eine Ultima Ratio, die immer wieder entgleitet. Hier sollte also nicht primär KI [Künstliche Intelligenz] praktiziert werden, sondern mit der Software und ihren syntaktischen Einheiten (Regeln, Ausnahmen und Widersprüchen) etwas von der Kultur um uns variiert und kommentiert werden.« |47

Großen technischen Aufwand erfordert die Eigendynamik, sobald sie in die grafisch-räumliche Darstellung übertragen werden soll. Die Installation A-Volve (1994) von Christa Sommerer und Laurent Mignonneau lässt den Besucher auf einem Monitor den Umriss von kleinen künstlichen Wesen skizzieren, die dann in einem virtuellen Aquarium seiner Pflege durch Pseudostreicheln bedürfen, um ihr kurzes digitales Leben zu führen. Statt der in den 60er Jahren propagierten Verbindung von »Kunst und Leben« geht es nun also um eine Überschneidung von Technologie und Biologie zur Simulation von künstlichem Leben. Der angestrebte Charakter einer wissenschaftlichen Visualisierung wird durch den Entertainmentaspekt zum Teil wieder aufgehoben.

Inwieweit eine solche Eigendynamik von Computern selbst als »kreativ« gelten kann, wird teils ernsthaft, teils ironisch diskutiert. Schon 1985 stellt Richard Kriesche die radikale These auf: »Kunst wird für uns solange eine mysteriöse Tatsache sein, solange die künstliche und natürliche Intelligenz verschiedene Größen sind«, was aber »in der Folge Kunst überflüssig machte«. |48 Turings Frage »Können Maschinen denken?« wäre demgemäß zu ersetzen durch »Können Maschinen Kunst machen?«

e) Dialogische Modelle:

An die Stelle der Interaktion Mensch-Maschine tritt bei diesen Konzepten die Interaktion Mensch-Medium-Mensch. Die einfachsten Modelle hierfür sind Telekommunikationsarbeiten mit Livevideo oder TV-Verbindung zwischen zwei Ausstellungsorten. Diese können auf entgegengesetzten Seiten der Erde oder nur auf der anderen Straßenseite liegen. Schon in den 70er Jahren nutzt Douglas Davis das Fernsehen für Liveaktionen, die teils echten Dialog ermöglichen (Talk Out! 1972) oder auch nur metaphorisch, wenn nicht gar metaphysisch eine pseudo-telepathische Verbindung inszenieren (The Austrian Tapes 1974). Heute können sich technisch perfektionierte Stücke wie Paul Sermons Telematic Dreaming (1992) und Telematic Vision (1993) bei geeigneter Aufstellung großer Publikumsbeteiligung erfreuen. Die telematische Erweiterung von alltäglichen Situationen wie auf-einem-Sofa-sitzen oder in-einem-Bett-liegen baut keinerlei technologische Hemmschwellen auf. Die möglichen Dialoge bleiben aber auf einer spielerischen »Hallo«-Ebene der Kommunikation. In Agnes Hegedüs’ Installation Between the Words (1995) stehen sich die zwei Partner unmittelbar gegenüber – nur durch eine Wand von dem Interface getrennt, in dem sich virtuelle Gesten und reale Mimik überlagern. Diese poetische Annäherung von virtueller und »face-to-face«-Begegnung wird zur drastischen Message in so genannten Cybersex-Anzügen, wie sie die Künstler Kirk Woolford und Stahl Stenslie 1994 vorstellten. |49 An ähnlichen Modellen für den realen Einsatz wird allerdings eher außerhalb des Kunstbereichs getüftelt. Die große Presseaufmerksamkeit für solche Experimente scheint auf einen akuten Punkt im kollektiven Unbewussten hinzuweisen. Alle diese dialogischen Ansätze neigen zu einem überladenen Symbolismus der medialen Verbindung. So benennt Douglas Davis schon 1975 das Feedback seiner Arbeit als »Wissen, dass ich Teil der Entwicklung eines tiefergehenden, vielfältigeren Kommunikations-Systems bin, zwischen mir und der Welt und zurück zu mir. Es hat nichts zu tun mit einer spezifischen Antwort«. |50 Es bleibt also bei einer Illustration des »the medium is the message«-Satzes von McLuhan.

f) Der »exemplarische Betrachter«:

Der Betrachter erhält in den bisher genannten Installationen eine neue Rolle, indem er nicht nur als Rezipient, sondern auch als Akteur auftritt. Diese selbstverständliche Erklärung von Interaktivität unterschlägt jedoch eine zweite, mindestens ebenso wichtige Änderung der Rolle des Betrachters. Denn interaktive Installationen lassen meistens nur einen einzigen Betrachter in Aktion treten, der damit einen spezifischen Platz einnimmt und sozusagen zur Vervollständigung des Stücks dazugehört. Er ist nicht ein Betrachter unter vielen, er tritt nicht mehr als Gruppe auf, die sich vor einem Werk versammelt und es im individuellen Rhythmus umschreitet, sondern er wird zum »exemplarischen Betrachter«.

In den Hightech-Simulationen der 90er Jahre bildet der »exemplarische Betrachter« die Verbindung von Datenraum und Realraum. Vergleichbar begegnet er in den Closed-Circuit-Videoinstallationen der 70er Jahre seinem eigenen medialen Abbild. Das schon von Rosalind Krauss 1976 als »Video-Narcissism« analysierte Element der Selbstverdoppelung führt in den Cyberspace-Installationen zu der symbolischen Einsamkeit des Betrachters im virtuellen Raum. |51 Das gilt auch für Telekommunikationsprojekte, bei denen zwei einzelne Betrachter in Relation gestellt werden, aber gerade die Unüberbrückbarkeit der räumlichen und körperlichen Trennung bei gleichzeitiger Intensität der Verbindung die eigentliche Faszination ausmacht. Paul Sermons telematische Verbindung zweier Menschen in zwei Betten zum Austausch televisueller Pseudotaktilitäten (Telematic Dreaming) ist in diesem Sinne auch eine Gegendarstellung zur Rolle der Medien in Valie Exports Tapp- und Tastkino von 1968.

Die tatsächliche Situation des »exemplarischen Betrachters« im Ausstellungskontext ist natürlich oft alles andere als einsam. Die anderen Besucher sehen ihm vielleicht bei der Interaktion zu, geben Tipps und lachen, oder sie warten ungeduldig, bis sie selbst an der Reihe sind – was gerade bei gut besuchten Ausstellungen oft zu Problemen führt. Doch dass die Einsamkeit vor dem Apparat zu den zentralen Erfahrungen dieser Form von Interaktivität gehört, zeigt die Episode, die Jeffrey Shaw über seine Legible City berichtet: Bei einer bis in die späten Nachtstunden geöffneten Ausstellung sah er plötzlich die eigentliche Erfahrungsebene seiner Installation: nachts alleine mit dem Fahrrad durch eine menschenleere Stadt zu fahren. |52 Die Einsamkeit reicht also bis in die Bildwelt der Werke hinein: Weder in Shaws virtuellem Museum noch in den zahlreichen sonstigen Versionen trifft der Betrachter auf andere Besucher. |53

Fast alle bisher genannten Modelle von Interaktivität finden in Installationen statt, die dem realen Raum verbunden bleiben. Mit diesem Raumbezug können sie zugleich an den Kunstkontext und seine ortsspezifischen Wertungskriterien von wichtigen und unbedeutenden Ausstellungsplätzen angebunden werden. Allerdings sind die Stücke durch ihren technischen Aufwand wesentlich schwerer auf Reisen zu schicken als Bilder oder Objekte. Ironischerweise übersteigt der Preis der benötigten 3D-Animations-Computer meist bei weitem den möglichen Wert des mit ihrer Hilfe realisierten Kunstwerks auf dem Kunstmarkt. Somit entziehen sich diese Stücke der Verkäuflichkeit »nach oben«, wogegen sich die Kunstvideos der 70er und 80er Jahre der Preisskala des Marktschemas »nach unten« hin entzogen. Noch entscheidender ist, dass im Unterschied zu traditionellen, statischen Kunstwerken die wesentlichen Aspekte der Installationen nicht durch Abbildungen transportierbar sind, weshalb die Berichterstattung darüber nur Bruchteile erfasst. Gerade die technologisch aufwändigsten Inventionen überschreiten also die Kapazität der gängigen Vermittlungsmedien und fallen so aus der Struktur der medialen Verbreitung heraus. Deshalb kommt es zu dem ironischen Anachronismus, dass der Kunstbetrachter – wie in früheren Jahrhunderten – zum Reisenden werden muss, um die Orte der Kunst bei Festivals und Medienausstellungen aufzusuchen, wenn er ihre eigentliche interaktive Qualität erfahren will. Aufgrund dieser Vermittlungsprobleme sowie ihrer Technikabhängigkeit und der Beschränktheit des Interaktionspotenzials hat sich die stationäre interaktive Installation der frühen 90er Jahre im Wesentlichen als Sackgasse erwiesen.

g) Ansätze zu einer Kollektivität im Medienraum:

Wenn in einem kollektiv zu strukturierenden Prozess mehrere Benutzer miteinander verbunden werden, kann der elektronische Raum zum sozialen, ja teilweise fast öffentlichen Raum werden. Solche komplexeren Kommunikationsstrukturen sind bereits vor dem Internetboom vor allem als textbasierte Systeme entstanden. Schon der Cadavre exquis des Surrealismus zeigt das poetische Potenzial der kollektiven Autorenschaft. Erste Ansätze für vernetzte Schreibprozesse im Kunstkontext sind Roy Ascotts La plissure du texte (1983), das von Jean-François Lyotard anlässlich seiner Ausstellung Les Immateriaux (1985) initiierte Projekt mit 26 Autoren, John Cages The First Meeting of the Satie Society (1986) oder das Projekt PooL-Processing (ab 1988) von Heiko Idensen und Matthias Krohn. |54 Die postmoderne These vom »Tod des Autors« findet dabei ihre adäquate technologische Form, denn in dem Projekt von Lyotard besteht auch die Möglichkeit des Über- und Umschreibens von Texten der anderen Teilnehmer des Kollektivs. |55 Auch innerhalb des postmodernen Diskurses wäre also eine Untersuchung zum Verhältnis von Ideologie und Technologie möglich, insbesondere hinsichtlich des Begriffs Rhizom, den Deleuze und Guattari schon 1976 für eine sich vernetzende Textstruktur prägen.

Das vernetzte Schreiben ist im Internet heute zu einer alltäglichen Diskursform geworden, die dialogische und kollektive Elemente verbindet. Die Textwelt in so genannten »MUDs« und »MOOs«, die ursprünglich als vernetzte Spiele entstanden sind, wird mit Internettreffs in der Nachfolge des ehemals berühmten kalifornischen »The Well« zu einem Teil des Way of Life. |56 Auch diese, lange Zeit im besten Sinne zweckfreien und kreativen Spielwelten werden mittlerweile kommerzialisiert und dadurch immer mehr zur Verdoppelung der Banalität der realen Lebens zwischen belanglosem Geplauder und plumper Anmache. Es macht daher Sinn, wenn ein Projekt wie FOOGUE (seit 1996) von Evelyn Teutsch den Schutzraum des Kunstkontexts auch auf diesem virtuellen Terrain nutzt, dabei aber nicht den Hermetismus der Kunstwelt dupliziert, sondern einer echten Kollektivität im Medium nahe kommt. Christin Lahr überträgt in der Installation [DPsNtN] = DISPLACED_PERSONS say NOTHING to NOBODY (1997–99) ihre Recherchen zu den Diskursen »bezüglich An- und Abwesenheit, Wahrheit und Lüge, Geschlecht, Aussehen, Identität und Verortung« im LambdaMOO zurück in den Kunstraum. Diese Überlagerung von virtuellem und realem Raum wird jedoch nur für den stillstehenden Besucher, also kontemplativ statt interaktiv, erfahrbar.

Das Projekt Piazza Virtuale der Künstlergruppe Van Gogh TV verbindet 1992 zur Documenta 9, also ebenfalls noch vor dem Netzboom, Fernsehen und Telefon mittels einer Computersteuerung, sodass Zuschauer, die es bis zu einer der heiß umkämpften Einwahlnummern geschafft haben, live auf dem TV-Bildschirm mit einem per Telefontastatur steuerbaren Interface kollektiv musizieren, malen oder chatten können. Die fehlende thematische Vorgabe und das primitive Interface ließen das Projekt jedoch trotz oder gerade wegen des immensen Publikumszuspruchs in hundert Tagen Belanglosigkeit enden. Im Rückblick könnte man »Van Gogh TV« ganz im Sinne Benjamins interpretieren: als grandios gescheiterten Versuch, die Effekte des World Wide Web mit TV und Telefon zu antizipieren.

Eine Verbindung von körperlicher Interaktion in der 3D-Raumsimulation mit aus dem Internet eingespeisten Informationsdaten wird in solch aufwändigen Installationen möglich, wie sie die Gruppe »Knowbotic Research« realisiert (Simulationsraum mobiler Datenklänge 1993, Dialogue with the Knowbotic South 1994). Der Betrachter betritt hier keinen vorher definierten Datenraum, sondern ein durch mehrere Teilnehmer ständig in Entwicklung befindliches digitales Environment, das versucht, komplexe naturwissenschaftliche Vorgänge, zum Beispiel aus der Antarktisforschung, in neue Formen der Visualisierung zu überführen. Ihr Anliegen als Künstler ist es, die wegen zu großer Komplexität nicht mehr vorstellbaren Zusammenhänge aus Naturwissenschaft und Technologie, oder seit 1997 auch die Analyse urbaner Strukturen, durch eine assoziative, räumlich und körperlich erlebbare Umsetzung vorstellbar zu machen. Die an dieser Schnittstelle von Kunst und Scientific Visualisation entstehenden Bilder einer möglichen »computer aided nature« sind allerdings oftmals von verführerischer Ästhetik – vielleicht sogar zu schön, um zugleich auch wahr zu sein.

Interaktion und Internet – die Situation heute

Während Naturwissenschaftler schon seit über zehn Jahren weltweit selbstverständlich mit dem Internet arbeiten, findet die Kunst erst mit dem großen Netzboom und dem begleitenden »Hype« zu ihrer bisher letzten technischen Zukunftsvision. Dass die Kunst seit etwa 1994 das Internet entdeckt, liegt vor allem an der Einführung einer neuen Software, die das Netz als World Wide Web (WWW) multimediafähig macht und es damit neben der rein schriftlichen Kommunikation für Bild und Ton erschließt. Parallel dazu setzen sich mit der CD-ROM und ihrem Nachfolger DVD interaktive Datenträger als Massenmedien durch. Es ist aber zu vermuten, dass mit schnelleren Übertragungsraten in Zukunft alle Festspeicher durch entsprechende Netzangebote abgelöst werden.

Der wesentlichste Effekt dieser neuen Technologien ist die Erschließung der Interaktion für die Massenmedien: Interaktivität soll das Experimentierlabor verlassen, um zur Zukunftsmelodie der Medienindustrie zu werden. Auf einen Schlag wird die Beschränktheit des Zugangs der interaktiven Hightech-Installationen überwunden. Die interaktiven Datenstrukturen kommen zu jedermann nach Hause, sei es aus der Telefonbuchse oder auf einer silbernen Scheibe. Der Betrachter muss nicht mehr zum romantischen Reisenden auf den Spuren der Werke werden, sondern er wird zum Datenreisenden, dessen »Surfen« im Netz den Abglanz der körperlichen Eleganz des kalifornischen Wassersports auf die virtuelle Ebene hebt.

Die einschneidende Veränderung der Denkmodelle zeigt sich an dem Bedeutungswandel der zentralen Begriffe. »Cyberspace« wird nicht mehr vorrangig als Projektion des realen Raums und des menschlichen Körpers in den Datenraum verstanden, sondern als Vernetzung aller Kommunikationsstrukturen. »Interaktivität« wird von der Mensch-Maschine-Interaktion wieder zur zwischenmenschlichen Interaktion, deren Strukturen durch die Übermaschine des Internets mit seinen Millionen von angeschlossen Computern beziehungsweise Nutzern geprägt wird.

An die Stelle der symbolischen Einsamkeit, wie sie der Betrachter im Cyberspace der frühen 90er Jahre oder vor dem eigenen Videobild der Closed-Circuit-Installation der 70er Jahre fand, tritt nun das radikale Überangebot an Kommunikation. Das Internet scheint die technische Machbarkeit zur Erfüllung der Utopien einer Intermediakunst zu liefern, da hier alle Medien und Gattungen konvergieren. Die Idee des »Netzwerks« ist älter als seine technische Realität und war schon in den 60er Jahren ein zentrales Motiv sowohl der alternativen Kultur als auch ihres Anspruchs auf die politische sowie die soziale Wirksamkeit. Nun werden mit der neuen Technologie die Ideale der 60er Jahre wieder entdeckt: Ein »offenes Kunstwerk«, das erst in der Kommunikation der Teilnehmer entsteht, und ein »herrschaftsfreier Diskurs« aller am Netz Beteiligten sind Grundformen der Internetideologie und Ästhetik der frühen 90er Jahre. Ihr Vorbild findet diese Haltung in Projekten wie Electronic Cafe von Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz, das 1984 zur Olympiade in Los Angeles verschiedene Stadtbezirke mit einem multimedialen Netzwerk verbindet. Ohne irgendeine Form von Inhalt zu bieten, soll alleine die Öffnung neuer Kommunikationswege nach dem Willen der Macher eine ethische und demokratische Dimension haben. |57 Electronic Cafe ist damit der Vorläufer aller Netzutopien, in denen ein soziales Modell in die Form von Technologie gegossen wird.

Die erfolgreichsten Projekte im Zwischenfeld von Politik und Kultur sind die seit 1994 zuerst in Amsterdam und dann in zahlreichen weiteren Städten Europas entstehenden »Digitalen Städte« und »Internationalen Städte«. In ihrem Programm heißt es: »Neue zwischenmenschliche Beziehungen werden durch die Internationale Stadt initiiert und wirken auf den Alltag der realen Stadt. Im Unterschied zu anderen Medien werden neue Informationen durch sozialen Austausch entstehen.« |58 Statt des »global village«, das McLuhan in den 60er Jahren propagiert, nun also eine Beschränkung auf die elektronische Nachbarschaft im regionalen Rahmen – aber mit regem Austausch zwischen den digitalen, untereinander vernetzten Metropolen. Viele dieser Projekte stehen bald vor der Frage, ob sie im selbstbestimmten Freiraum alternativ-künstlerischer Medienarbeit bleiben wollen oder sich ebenso wie ihr rasch boomendes kommerzielles Umfeld als Serviceunternehmen professionalisieren. Dieser Rollenkonflikt führte dazu, dass sich die prominente Internationale Stadt Berlin 1997 schließlich auflöst, während sich die Internationale Stadt Bremen in eine Internet-Dienstleistungsfirma verwandelt. |59 Hier wiederholen sich Prozesse der professionellen Differenzierung aus der Videoszene der 80er Jahre in ihrer Abgrenzung oder Annäherung zum Fernsehen, allerdings in stark beschleunigter Form.

Spezifischer auf den Kunstkontext bezogen ist hingegen das 1991 noch unabhängig vom Internet entstandene Projekt The Thing. Sein Initiator Wolfgang Staehle verfolgte nach dem Erwerb eines PCs und Modems mit Interesse die Kommunikation der Computerfreaks in den BBS-Mailboxen, die sich zwar nur um technische Fragen dreht, ihm aber als geeignete Plattform für eine neue Form des Kunstdiskurses erscheint. |60 Das zunächst nur als temporäres Konzept innerhalb New Yorks gedachte Projekt wächst jedoch schnell zu internationalen Dimensionen mit Knotenpunkten in Köln, Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Düsseldorf, London, Stockholm und Wien. Damit wird den Teilnehmern, zu einer Zeit, als private Internetanschlüsse noch kaum erschwinglich sind, die Erfahrung einer globalen Diskussionsgemeinschaft zu spezifischen Themen zeitgenössischer Kunst ermöglicht. Technisch wird dies realisiert, indem die aktuellen Daten zwischen den einzelnen Knotenpunkten nachts ausgetauscht werden, sodass eine weltweite Kommunikation per E-Mail zum Telefon-Ortstarif möglich wird. The Thing schafft so ein völlig autonomes, weltweites Netz außerhalb aller vorhandenen Netze. Die Voraussetzung hierfür war neben der technischen Realisation aber vor allem das bereits etablierte menschliche Netzwerk der internationalen Kunstszene. Wolfgang Staehle schreckt nicht davor zurück, sich dabei auf grosse Namen zu berufen: »Beuys ging es um die soziale Skulptur, eine künstlerische Produktion, die eine Gruppe oder eine Gemeinschaft zusammen macht. ›The Thing‹ ist so eine Skulptur: es realisiert die Beuyssche Idee von der direkten Demokratie, vom politischen Gemeinwesen als sozialer Struktur. Gleichzeitig stellt es eine Erweiterung des Kunstbegriffs dar.« |61 Ist die Erweiterung des Kunstbegriffs also durch das geeignete Medium zu lösen, oder wird nun auch auf Künstlerseite der Paradigmenwechsel von der Ideologie der 60er zur Technologie der 90er Jahre proklamiert? Die zu Beginn noch vom Pioniergeist der globalen Vernetzung getragene Struktur ist mittlerweile von der Technologie überholt worden und hat sich in mehr oder weniger autonome Standorte aufgelöst. Auch hier vollzog sich mit dem WWW der Wandel von der zweckfreien Kommunikation als theoretischem Diskurs oder Szeneklatsch zu einer halbkommerziellen Nutzung.

Alle kulturellen Netzprojekte der frühen 90er Jahre versuchen anfangs noch zwei Ziele parallel zu verfolgen: Zugang zum Netz für jedermann zu schaffen und eine neue Diskurs- und Vermittlungsplattform zu installieren, die sich inhaltlich durch die Aktivitäten ihrer Mitglieder formt. Durch den Internetboom wird diese Koppelung von Technik und Inhalt jedoch schnell überfällig. Seit der Internetzugang industriell frei Haus geliefert wird, ist mit den Pionierprojekten wie The Thing oder Internationale Stadt vielleicht auch die letzte Utopie einer Synthese von technischem und künstlerischem Fortschritt im 20. Jahrhundert von der Realität eingeholt worden.

Die Kunst ist bei dem derzeitigen Boom der Netzwerkkommunikation gewiss nur ein kleiner Nebenschauplatz. Aber dass Künstler die zentralen Probleme des Mediums frühzeitig erfassen, zeigt das von Antoni Muntadas initiierte Projekt The File Room (seit 1994). Es stellt ein offenes Archiv zu aktuellen und historischen Fällen von Zensur dar, das durch seine weltweiten Benutzer ständig erweitert wird. Muntadas arbeitet schon seit den 70er Jahren mit der politischen Funktion von Massenmedien. Sein Projekt war zunächst unabhängig von einer Umsetzung im Internet entstanden, erhält aber erst hier seine eigentliche Brisanz. Die immer wieder laut werdende Forderung nach einer Zensur im Internet, die 1996 in den USA zu einem nur knapp gescheiterten Gesetzesentwurf führte, schafft bei The File Room eine unmittelbare Synthese von Medium und Botschaft. Anfangs waren die Zugriffsraten auf seine Internetadresse unter den Top Ten der Netzstatistiken, direkt nach der Website von Microsoft!

Ein weiteres Pionierprojekt, das die globale Funktion des Internets zum Thema hat, ist Ingo Günthers Refugee Republic. Das Projekt eines über das Internet organisierten Staats, der aus den weltweit 20 Millionen Flüchtlingen eine handlungsfähige Kapitalkraft statt einer wirtschaftlichen Belastung machen soll, mag als typische Netzutopie erscheinen. Tatsächlich wurde die Idee jedoch ebenso wie The File Room zunächst unabhängig vom Internet entwickelt (ab 1993) und fand dann erst im Netz ihr passendes Medium. Günther geht nicht vom Status quo der Medientechnik aus, sondern entwickelt anhand eines faktischen Problems den Entwurf einer neuen Funktion des Mediums und damit eines Teils der Gesellschaft. Thomas Morus musste 1516 für sein Utopia noch auf einen unentdeckten Inselstaat verlegen, obwohl er auf die Verhältnisse im eigenen Land zielte. Günthers Staat kann dagegen ohne Territorium nur im Netz existieren und ist somit eine perfektionierte Utopie, die zugleich mit ihrem Medium die Mittel zur Verwirklichung benennt – selbst wenn diese bis heute auf sich warten lässt. |62

Auch die politischen Utopien, die von höchster Stelle aus am Anfang des Netzbooms standen, so etwa »ein neues athenisches Zeitalter der Demokratie«, das Al Gore für Bill Clintons Wahlkampfprogramm des Informations-Highway von 1992 beschwor, sind bisher unerfüllt geblieben. Sie haben zwar viel bewirkt, aber eben in einer anderen Richtung als behauptet. Es erscheint wie die Erinnerung an eine ewig zurückliegende Epoche des Netzes, dass noch 1993 die ersten Versender von Spam-Werbemails im Internet von der Netzgemeinde mit organisierten Massenprotesten auf ihre E-Mail-Adresse attackiert wurden. Seit Mitte der 90er Jahre wandelt sich das Internet von einem wertfreien Mittel des Wissenschaftsdiskurses und der Chat- und Newsgroups zu einem Massenmedium mit hartem kommerziellem Verdrängungswettbewerb. Aus dem Kommunikationsmedium wird durch das multimediale World Wide Web ein Konsum- und Broadcastmedium, das zunehmend mit TV und Radio verschmilzt. Die großen Software- und Telekommunikationsfirmen arbeiten mit Hochdruck an der flächendeckenden Umsetzung von Multimedianetzen als Zukunftsmarkt. Bill Gates und seine Konkurrenten versuchen die Reste der anarchischen Struktur des Netzes der Hegemonie des Corporate Business zu unterwerfen. Fast zynisch wirkt die von kommerziellen Internetprovidern in Werbebriefen an Künstler geweckte Hoffnung, mit der Einrichtung einer Homepage, auf der sie zum Beispiel ihre Malerei präsentieren können, endlich den Sprung zur weltweiten Berühmtheit zu schaffen. Ebenso ließe sich behaupten, der Eintrag ins Telefonbuch wäre der ideale Start für eine Schriftstellerkarriere.

Zweifellos könnte das Internet eine wesentlich größere Herausforderung an das Kunstsystem stellen als alle elektronischen Medien zuvor, da es nicht nur eine neue Form der Produktion wie Video und Computer, sondern vor allem einen neuen Weg der Distribution darstellt. Seine Ubiquität widerspricht dem sozial und räumlich definierten Kunstkontext und seinem notwendig elitären Insiderdiskurs. Mitte der 90er Jahre begann deshalb die hoffnungsvolle Entwicklung neuer Strukturen sowohl auf Seiten der Kunst als auch in der Netzwerkkommunikation, um die Kapazität beider Bereiche zusammenzuführen. Auf modellhafte Weise gelingt dies dem New Yorker Äda-Web oder der Wiener Public Netbase. |63 Dennoch sind solche Modelle weitgehend folgenlos geblieben. Dies liegt an dem wechselseitigen Ausschlussprozess zwischen Kunstdiskurs und Netzkulturdiskurs, die sich gegenseitig oft ähnliche Unterstellungen machen, ohne ihr Gegenüber wirklich zu kennen: Kommerzabhängigkeit, Pseudoprogressivität, Scheinoffenheit oder Borniertheit lauten die üblichen Vorwürfe. Daher ist die so genannte Netzkunst bisher nur der kleinste gemeinsame Nenner der beiden aneinander vorbei verlaufenden Diskurse und damit die Randgruppe zweier Randgruppen. |64 Mit der Netzkunst kommt ein Paradox zu seiner letzten Zuspitzung, das die Medienkünste von Anfang an begleitet. Die Massenmedien, und vor allem das Internet, lösen alle Kontextbezüge auf. Die Kunst der Moderne hingegen ist im 20. Jahrhundert immer kontextspezifischer und damit in ihrer Bewertung, ja sogar Wahrnehmbarkeit immer kontextabhängiger geworden. Kunst im Internet steht deshalb vor dem Dilemma, sich medial an alle, aber kontextuell an niemanden zu wenden.

Die Umbrüche der Netzentwicklung werden auf vielfältige Art und Weise in der Kunst reflektiert. Vor der Gefahr einer Kommerzialisierung dürfte die Kunst dabei vorerst noch sicherer sein, als ihr lieb ist. Die Versuche zur Einrichtung von »Netzkunstgalerien« sind meist nur nach dem Modell der konventionellen Kunstgalerien geformte virtuelle Verdoppelungen und werden vermutlich dem Schicksal von Gerry Schums Fernsehgalerie folgen, mit der dieser schon 1970 vergeblich versuchte, den Kunstkontext in ein Massenmedium zu transportieren. |65 Das zeigte zum Beispiel der 1999 gescheiterte Versuch, die New Yorker Website von The Thing in einer Internetversteigerung zu verkaufen, bei der nur etwa fünf Prozent des Limits von 45000 Dollar erreicht wurden.

Dass mit der allgemeinen Vernetzung nicht die Ära der großen Freiheit, sondern des endlosen WeltWeitenWartens im WWW-Datenstau angebrochen ist, macht www.antworten.de (1997) von Holger Friese und Max Kossatz zum Thema. Internetprojekte wie Dump Your Trash! (1998) von Joachim Blank und Karlheinz Jeron sind der symbolische Grabstein der unter dem Datenmüll begrabenen Hoffnung auf Kommunikationsbefreiung. Auf ihrem nach der Ex-DDR-Müll-Recycling-Firma benannten Server sero.org bieten Blank und Jeron außerdem einen »re-m@ail«-Service zur öffentlichen Entsorgung von unbeantworteten E-Mails an. In einer Zeit, in der netzaktive User nach einer Woche Urlaub schnell über tausend Mails in ihrem Account vorfinden, ist ein solcher Service Realsatire auf die Selbstblockade der Kommunikationsexplosion. Diese getrost als antiinteraktiv und antikommunikativ zu bezeichnenden Konzepte markieren den Übergang von der Netzutopie zur Netzkritik, der sich beispielsweise an der Haltungsveränderung in den Schriften der Agentur Bilwet (Geert Lovink u. a.) über den Zeitraum von 1991 bis 1997 ebenso ablesen lässt wie in den Debatten auf der Nettime-Mailingliste seit 1995. |66 Es geht in dieser künstlerisch und theoretisch formulierten Netzkritik um eine doppelte Analyse. Die nicht eingelösten Versprechungen der Industrie sind ebenso Thema wie die unerfüllten eigenen Utopien. Denn Joachim Blank und Karlheinz Jeron sind ebenso wie Geert Lovink Netzpioniere der frühen 90er Jahre, die mit der Bewegung der Digitalen Städte ein kulturelles und kommunikatives Gegenmodell zur heutigen Netzbanalität entworfen haben.

Die das Netz und vor allem die Diskussion darüber bestimmende Mischung von harter Pornografie, Polit-Radikalismus, Werbung und Propaganda haben Keith Seward und Eric Swenson auf ihrer CD-ROM Blam! 3 komprimiert unter dem Motto »Interaktivität ist die größte Lüge!« und der russische Netzkünstler Alexei Shulgin bezeichnet 1996 in einem Manifest jegliche Form medialer Interaktivität als Manipulation. |67 Von der Antiinteraktivität führt ein direkter Weg zur Softwaresubversion. So wird der Besucher der Website oder CD-ROM OSS von Jodi völlig unvorbereitet mit ständig neuen Schreckensbildern eines finalen Absturzes konfrontiert, um dann zu merken, dass er nur eine Simulation des nicht simulierbaren Endes aller Simulationsmaschinen gesehen hat.

Noch weiter geht die subversive Software Carnivore der Gruppe RSG (Radical Software Group). Das drei Wochen nach den 9/11 Terroranschlägen im Oktober 2001 lancierte Projekt macht die totale Überwachbarkeit des Internets evident, indem es erlaubt, nach seiner Installation auf einem lokalen Netz allen Datenverkehr im Klartext mitzulesen. Mittels freier Software wird so jedermann in die Lage versetzt, dem gleichnamigen, aufwändigen Schnüffelprogramm des FBI Paroli zu bieten, um so bei der nach 9/11 zu erwartenden Verschärfung der staatlichen Überwachung mitzuhalten. Die künstlerische Seite von Carnivore besteht darin, dass es als Basis für verschiedene Formen alternativer Visualisierung von Datenflüssen in Echtzeit verwendet wird. Diese von mehreren Künstlern programmierten »diagnostic clients« erlauben es, die Betroffenheit über die Observation in eine ästhetische Kontemplation von zufallsbestimmten Strukturen zu verwandeln, die durchaus den Radiostücken von Cage aus den frühen Fünfzigern vergleichbar ist. Ausdrücklich verweist RSG auch auf die funktechnischen Ursprünge des Ethernet, die in dessen Bezeichnung noch erkennbar sind.

Damit kommen wir in doppelter Hinsicht wieder auf den Ausgangspunkt dieses Textes zurück. Zum einen ist die Partizipation vor aller Interaktion ein Grundprinzip moderner Kunstbetrachtung – und sie wird hier auf höchstem technischen Niveau ausgeweitet auf sonst unsichtbare Prozesse. Zum anderen tritt erneut der Konflikt von Individual- und Massenkommunikation auf, der seit der Entstehung des Radios bis zum Internet alle elektronischen Medien prägt. Gegen Enzensbergers Thesen zu einer emanzipatorischen, demokratischen Funktion der Medien wendet Jean Baudrillard schon 1972 ein: »Die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer untersagt […] es sei denn in Form der Simulation einer Antwort.« |68 Nicht die Antworten, sondern die Fragen waren laut Jochen Gerz entscheidend für den politischen Aufbruch der 68er, und die Unmöglichkeit der Antwort in den Medien zeigt sein nur aus Fragen des Publikums bestehendes Internetprojekt Das Berkeley Orakel (1997–99). Wie am Ende des Aufbruchs der 60er Jahre das von Bruce Nauman formulierte Misstrauen in partizipative Kunstformen steht, findet am Ende der 90er Jahre eine skeptische Revision des von der Medientechnik geprägten Interaktivitätskonzepts statt.

Den theoretischen Hintergrund dazu liefert der von Robert Pfaller geprägte Begriff der »Interpassivität«. |69 Seine Skepsis gegenüber aller Interaktivitätseuphorie geht dabei auf Phänomene wie das »canned laughter« von billigen TV-Komödien zurück, das symptomatisch sei für eine Kunst, die sich sozusagen selbst betrachtet und damit die Reaktion des Betrachters schon vorwegnimmt. |70 Auch in der interaktiven Kunst sieht Pfaller die Tendenz zum »delegierten Genießen«, welche es erlaubt, sich jeglichen ästhetischen Urteils zu enthalten. Damit bildet dieses Konzept von »Interpassivität« das aktualisierte Gegenstück zu der »Pseudoaktivität« von Medienkonsumenten, die Theodor W. Adorno schon 1938 in seiner Untersuchung zu Radio- und Schallplattenhörern feststellt. |71

Der von der Industrie angestrebten Synthese zwischen Netz- und Sendemedien lassen sich auch positive Seiten abgewinnen. Dazu zählen die Ende der 90er Jahre im »Crossculture«-Umfeld von Medieninitiativen, Kunstkonzepten und Pop- oder Technomusik entstehenden Livewebcastings, in denen das gute alte Broadcastingprinzip subkulturell neu erfunden wird. Dass sich die Grenzen zwischen Netz- und Sendestrukturen überlagern, zeigen Internetprojekte wie Radioqualia (seit 1998) mit der Frequency Clock, einer interaktiven Website und Rauminstallation als Schnittstelle zwischen Netzradio und Radiosendern. Ebenso entstehen neue Sendeformate wie Achim Wollscheids Radioprojekt Imaginary Soundscapes (seit 1999). Ein kollektiv bestückbarer Klangspeicher wird von mehreren Mitspielern und eventuell auch den Zuhörern via Internet gesteuert. Die dabei entstehenden Kompositionen sind nachts im sonst programmfreien Zeitraum eines Frankfurter Radiosenders live zu hören.

Schließt sich damit der Kreis zu dem Ideal einer ästhetischen Sensibilisierung, die in die Interaktion mit den Medien hineinreicht, wie es John Cages Stück Imaginary Landscape No. 4 schon 1951 für zwölf Radios und vierundzwanzig Ausführende beispielhaft vorführt? Sind Künstler nur die »exemplarischen Zuhörer«, die uns die mediale Veränderung der Weltsicht durch einen Prozess der Auswahl und Bündelung erkennen lassen? Oder hat Kunst gerade mit den neuen Technologien wieder den Anspruch und die Möglichkeit zu einem Eingriff in die Dynamik der Entwicklung der Mediengesellschaft? Und umgekehrt: Wie »resistent« wird der Kunstbegriff gegen die Mediatisierung aller Lebensbereiche bleiben? Oder ganz konkret auf die hier behandelte Thematik bezogen: Macht es noch Sinn, über die Bedeutung von Interaktivität in der Perspektive der Kunst nachzudenken, oder reicht es, statt dessen auf die Entwicklung der Hard- und Software sowie das ständige Wachsen des Internets zu verweisen?

Dass 1999 die Jury des »Prix Ars Electronica« den Hauptpreis in der Kategorie »net« an das Betriebssystem Linux vergibt, spricht für eine solche Marginalisierung der Kunst. Diese Entscheidung mag mit der oben an den Beispielen von John Cage und Bill Gates geschilderten Differenz offener und geschlossener Systeme zu tun haben. Doch ihre Konsequenz trifft sich mit der These Friedrich A. Kittlers, die besagt, dass wir nur aus Unkenntnis die Erzeugnisse von Medien mit Kunst verwechseln. Dass dies durch die Jury eines Kunstpreises solchermaßen bestätigt wird, kann aus der Perspektive der Kunst als überflüssige Affirmation der Technologiegläubigkeit der Medienkunst kritisiert werden, mit der die Verbindung zum Kunstkontext endgültig gekappt wird. |72 Doch aus einer kulturgeschichtlichen Sicht kann diese Entscheidung auch als ein Indiz dafür gesehen werden, dass es offenbar eine unstillbare Sehnsucht nach der Epoche vor der Trennung von Kunst und Technik gibt. Eine »Ars electronica« wäre dann die Nachfolgerin einer »Ars inveniendi«, zu deren Bereich im Barock sowohl die Kriegskunst als auch die Wasser- und Feuerwerkskunst, ebenso die ersten Apparate der Rechenkunst und die bei Hofe erfolgreich vorgeführten Androiden-Automaten gehören. Genauso vermischen sich heute im Bereich der technologischen Interaktivität unverhohlene Militärinteressen mit denen der Wissenschaft und Kunst sowie einer postfeudalen Unterhaltung. Auch die zahllosen Projekte im Zwischenbereich von Kunst und Medien, die den Namen Leonardo tragen, verweisen auf das gleiche Bedürfnis, den Maler, Anatomen, Festungsbaumeister und Flugapparateerfinder zum Sinnbild einer für immer verlorenen Ganzheit von Kulturleistung, Technikinnovation und Naturforschung zu stilisieren.

Ein weiteres Mal: Ist Interaktivität eine Ideologie oder eine Technologie?

Die Sehnsucht nach dem Homo Universalis der Renaissance wird sich im Zeitalter der Wissens- und Kommunikationsexplosion auch mit Computerunterstützung nicht erfüllen lassen. Dennoch führen Computer und Vernetzung zu einer Konvergenz von bisher getrennten Feldern. Die in den 30er Jahren noch radikal getrennten Fragestellungen von Brecht und Turing nach der sozialen oder technologischen Bedeutung von mediengestützter Interaktion beginnen sich heute zu überschneiden. Ob wir mit Maschinen anstatt mit Menschen oder mit Menschen mittels Maschinen kommunizieren, oder ob wir mit Menschen über Maschinen oder mit Maschinen über Menschen sprechen, wird durch die Verflechtung von menschlicher Gesellschaft und technologischer Parallelwelt immer schwerer zu unterscheiden. Das heißt auch, dass sich die Grenze zwischen Ideologie und Technologie verwischt, ja dass Technologie seit den 90er Jahren ein zentrales Element der Ideologie bildet. |73

Diese Konvergenz von Ideologie und Technologie hat sich in der gesamten Entwicklung und Diskussion von mediengestützter Interaktivität angekündigt. Schon vor der Medienkunst versuchen die Partizipationsformen von Happening und Fluxus, die Trennung von Produzenten und Rezipienten aufzuheben. Sie haben damit auch gegen die Konditionierung zum Konsumismus durch die Massenmedien reagiert. Das zeigt der Einsatz von Radio und TV bei Cage, Paik und Vostell ebenso wie das Expanded Cinema. Aus dieser gleichermaßen ästhetischen, sozialen und politischen Ideologie geht die These hervor, dass sich mittels der Medien die gesamtkulturelle Tendenz zur passiven Rezeption aufbrechen ließe – vorausgesetzt, diese Medien werden nicht im Interesse der Distribution von Kapital und Industrie eingesetzt, sondern können das ihnen innewohnende Potenzial zur Interaktion und Kommunikation entfalten. Das ist der Ursprung der These von der emanzipatorischen Kraft der Medien, die sich mit erstaunlicher Gleichartigkeit in so verschiedenen Kontexten wieder findet wie in Enzensbergers Kritik an der fehlenden Medienkompetenz der Linken von 1970 mit Rückgriff auf Brechts Radiotheorie der 30er Jahre oder in Weibels Aufruf zur Zukunft einer interaktiven Kunst von 1989. |74 Sie findet sich auch in der »kalifornischen Ideologie« der 90er Jahre, wie sie das Magazin Wired exemplarisch verkörpert und der Projekte wie die Digitalen Städte oder Nettime eine europäische Alternative gegenüberstellen wollen. |75 Doch schon mit der Wahlkampagne von Bill Clinton zum Informations-Highway von 1992 kündigt sich eine entscheidende Umkehrung an. Denn nun wird die zwischen Hackertum, Spät-Hippies und Kunst- oder Politavantgarde entstandene Idee der freien Netzkommunikation in Rekordzeit zur zentralen Botschaft der Medienindustrie. Und in diesem Endstadium ist logischerweise das ursprüngliche Feindbild, das mittels mediengestützter Interaktion und Kommunikation überwunden werden sollte, in Vergessenheit geraten: die industrielle Hegemonie der Medien als Ursache für den kulturellen Konsumismus.

Die Experimente im Labor der Avantgarde, von Bertolt Brecht über Happening und Fluxus bis zum linken Aktivismus der 60er/70er Jahre und schließlich der interaktiven Kunst der 80er/90er Jahre haben alle das gleiche Resultat hervorgebracht: Die Wirkung der Medien lässt sich auf Dauer und im großen Maßstab nicht umkehren. Die These vom emanzipatorischen Potenzial der Medien lässt sich nur in eng begrenzten, kulturell abgeschirmten Nischen umsetzen, taugt jedoch nicht zum Wettbewerb – auch in der Ära des angeblichen Post-Kapitalismus nicht. Schon Brecht sah deshalb, dass seine andere Verwendung des Radios »undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen« wäre. |76 Doch heute, nach dem Ende des Systemkonflikts zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wissen wir, dass es diese andere Ordnung nicht geben wird. Wenn also der Konsumismus ein unvermeidlicher Effekt aller Massenmedien ist und in den schein-partizipativen Rezeptionsformen des Zappens und Surfens erst ganz zu seiner Erfüllung kommt, dann liefe der Glaube an das emanzipatorische Potenzial mediengestützter Interaktion darauf hinaus, Alkoholismus mit Schnaps zu bekämpfen. Brecht hat schon 1932 die einsame Passivität des Radiohörers mit dem schlimmsten, nämlich dem stillen Suff verglichen. Heute endet die Interaktivitätseuphorie der frühen 90er Jahre in der Katerstimmung der von Agentur Bilwet beschriebenen »elektronischen Einsamkeit«, frei nach dem Motto »Verändere die Welt, bleib’ daheim.« |77

»Where do we go from here?«

Der Katerstimmung nach dem Ende der Netzeuphorie der 90er Jahre steht eine Übernahme von in der Medienkunst entwickelten Formen der Interaktivität durch den Mainstream der Massenmedien gegenüber. Die beiden Fernsehstationen RTL und ZDF starten in Deutschland im November 2000 Internetserien, die mit wechselndem Erfolg versuchen, das bewährte TV-Format der Soapopera in eine interaktive, netzbasierte Form zu übertragen. Auf dem Kulturkanal Arte wird sogar ein interaktiver Roman angeboten. |78 Auch ein Rückgriff auf den Topos der Literatur kann also zum fortschrittlichen Image beitragen, wenn es darum geht, nicht zum »Pantoffelkino« zu werden und die junge, zukunftsträchtige Zielgruppe des Publikums zu erreichen. Aber obwohl sie im jeweiligen TV-Programm stark beworben werden, hat keines dieser Projekte Erfolg und alle werden nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Versuchen die Institutionen des alten Mediums Fernsehen den Zug nicht zu verpassen, von dem die Netzpioniere mittlerweile glauben, dass er gar nicht losfahren wird? Dabei handelt es sich offenbar um eine Frage der Fahrtrichtung und der Zielsetzung.

Schon jetzt ist erkennbar, wo das Endziel der Aktivierung des Publikums durch die Mainstream-Medien liegt: nicht in einer Emanzipation des Konsumisums, sondern in einer Hightech-basierten Neuauflage der Aufmerksamkeitsökonomie, in der jede Aktion des Zuschauers potenziell kommerziell auswertbar wird. Wenn AOL-Chef Steve Case sagt, »immer mehr Menschen wünschen sich Interaktivität«, dann meint er damit, dass in Zukunft die Zuschauer »während einer TV-Show auf das Kleid von Britney Spears klicken und der Händler K-Mart liefert es ihnen dann ins Haus.« |79

Dementsprechend entwickelt eine Forschergruppe am MIT derzeit eine so genannte »Hypersoap«, die das alte TV-Prinzip des Product-Placements zur ultimativen Perfektion bringt. Während die Handlung läuft, kann jeder Artikel auf dem Bildschirm angeklickt werden, und man erhält eine Produktinformation oder die direkte Bestelloption. Man stelle sich vor: Das Auto, mit dem der Hauptdarsteller vorfährt, »Mercedes 300 SLK, 30000 Dollar – Link zu den Modellvarianten und Option für eine Probefahrt«. Das Bier, das er trinkt, »Tuborg, 3,99 Dollar im Sixpack – Lieferung in 30 Minuten bei Online-Order«. Das Taschentuch, mit dem er seiner Geliebten die Tränen abtupft, »Kleenex, 1,99 Dollar – kommt zusammen mit dem Bier«. Die gesamte Handlung einer TV-Serie fände somit in einem virtuellen Warenhaus statt, in dem die Schauspieler wie lebendige Schaufensterpuppen agieren. Die Identifikation mit dem Star wird dadurch ein hundertprozentig kommerzialisierbarer Faktor. Indem man seine Kleidung, Möbel und so weiter kauft, wird man scheinbar so wie er. Eine zusätzliche Werbesendung wäre damit überflüssig, ja sogar kontraproduktiv. Endlich erreichten dann die Broadcast-Medien die totale Synthese von ökonomischer und technologischer Struktur, gegen deren Divergenz sie schon seit den Tagen des Radios mit Methoden wie dem Rating ankämpfen.

Am Beispiel der »Hypersoap« zeigen sich vergleichbare Tendenzen, wie sie schon im vorigen Kapitel untersucht wurden. |80 Ein im Kontext der Medienkunst entwickeltes Prinzip wird von Mainstream-Medien aufgegriffen, aber die ursprüngliche Zielsetzung dabei in ihr Gegenteil umgekehrt. Oder, um es noch einmal mit den Worten Brechts auszudrücken: »Das gegen ihn gespritzte Gift verwandelt der Kapitalismus sogleich und laufend in Rauschgift und genießt dieses.« |81 Die künstlerische Utopie von einer interaktiven Kunst als Emanzipation des Betrachters vom Konsumismus, die sich gegen den klassischen, geschlossenen Werkbegriff wendet, weil er eine marktkonforme Kunst als Ware verkörpert, sieht sich also vor dem Paradox, dass ihre Konzepte zum Motor der New Economy umgebaut werden sollen und damit der totalen kommerziellen Durchdringung des alltäglichen Medienkonsums dienen. Dieser Prozess bestätigt zwar den Avantgardestatus von Medienkunst, doch lässt er spätestens seit dem Einbruch der New Economy die an die Interaktivität geknüpften Ideale zu historischen Relikten einer vergangenen Aufbruchstimmung werden?

Vergleicht man die Entwicklung des ebenso von zahlreichen Utopien begleiteten Radios in den Zwanzigern mit der des Internets in den Neunzigern, so lässt sich zumindest feststellen, dass die rhizomatische Struktur des Netzes sich bisher als weit resistenter gegen jede Monopolisierung und Kommerzialisierung erwiesen hat, als etwa die Entwicklung des Broadcasting, die bereits nach circa zehn Jahren zu den bis zum heutigen Fernsehen unverändert gültigen ökonomischen und institutionellen Grundprinzipien führte. Die Netzutopien der 90er Jahre gingen zu weit, weil sie das Internet in seiner Gesamtheit für einen revolutionären Faktor hielten. An diesem Irrglauben sind zuerst die alternativen gesellschaftlichen Initiativen für eine Netzdemokratie und dann die milliardenschweren Wirtschaftsmodelle einer neuen Netzökonomie gescheitert. Statt dessen scheint nun die Zeit der kleinen Utopien anzubrechen, die das Nahziel ihrer Verwirklichung im Auge halten. Denn je alltäglicher und selbstverständlicher das Netz wird, desto mehr bilden sich auch hier die Freiräume und Nischen, in denen sich wie im »normalen Leben« Kunst, Kultur und Kreativität entfalten können. Die vielen persönlichen Homepages, in die leidenschaftliche Webbastler ungezählte Arbeitsstunden investieren, zeigen, dass Nicholas Negropontes Prognose von 1995 zu einer neuen Amateurkunst von »Expressionisten« nicht ganz falsch lag. |82 Auch die Themen von aktuellen Medienkunstfestivals weisen in die Richtung einer Netzkultur, die unter dem Motto »do it yourself« die industriell vordefinierten Standards der Medientechnik hinterfragt oder umprogrammiert und sich ebenso unter dem Motto »take over« über die Evaluationsprozesse des Kunstbetriebs hinwegsetzt oder diese schlicht ignoriert. |83 Auch wenn sie, ohne es zu wissen, Friedrich A. Kittlers These von der Antiquiertheit der Kunst im digitalen Zeitalter widerlegt, verzichtet diese Form der Kreativität oft auf den Status von Kunst.

Gewiss, auch die Utopie einer Kunst, die sich nicht mehr Kunst nennt, stammt aus der Erbmasse der Avantgarde vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch der rhizomatische Pluralismus der Netzkultur könnte dieses ideologische Erbe vielleicht endlich von seinem Anspruch auf Totalität erlösen und damit die Frage nach Kunst oder Nicht-Kunst überflüssig machen. »On the Internet, nobody knows you’re a dog«, verkündet in einem Cartoon von 1993 der Hund an der Tastatur eines Computers beim lässigen Chat. Vielleicht ist dies die aktualisierte Version des Statements, mit dem Marcel Duchamp 1961 seinen Vortrag »Where do we go from here?« beschließt: »The great artist of tomorrow will go underground.« |84

1 Duchamp in seinem Vortrag »The Creative Act« von 1957, siehe Marcel Duchamp, Die Schriften, hrsg. von Serge Stauffer, Zürich 1981, S. 239.

2 Ebd., S. 240.

3 Duchamp in einem Brief von 1956, siehe ebd., S. 202.

4 Charles Baudelaire, Critique d’art, Paris 1992, S. 358.

5 Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Paris 1976, Bd. 2, S. 782.

6 Vgl. Dieter Daniels, Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002, S. 168 ff., 189 ff.

7 Duchamp 1981 (wie Anm. 1), S. 239.

8 Umberto Eco verweist darauf, dass die Anregung für seine Thesen aus der Neuen Musik stammen, allerdings ohne John Cage zu erwähnen. Siehe Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1977, S. 23.

9 Der sozialwissenschaftliche Interaktionsbegriff geht auf die von George Herbert Mead schon in den 20er Jahren entwickelte Theorie des »symbolischen Interaktionismus« zurück, die die wechselseitige Bedingtheit gesellschaftlichen Handelns und Kommunizierens untersucht.

10 Bertolt Brecht, »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: ders., Werke, Berlin und Frankfurt am Main 1992, Bd. 21, S. 553, 557. Brechts Radiotheorie ist in den 60er/70er Jahren auch in den USA ein Bezugspunkt des Medien- und Kunstdiskurses, u. a. durch ihre Wiederaufnahme bei Hans Magnus Enzensberger, die in den USA von marxistischen Theoretikern wie Todd Gitlin und Künstlern wie Douglas Davis aufgegriffen wird.

11 Alan M. Turing, »Rechenmaschinen und Intelligenz« (1950), in: ders., Intelligence Service, hrsg. von Bernhard Dotzler und Friedrich A. Kittler, Berlin 1987, S. 182.

12 Vgl. John Cage, »Komposition als Prozess, Teil II: Unbestimmtheit«, in: Rudolf Frieling und Dieter Daniels, Medien Kunst Aktion. Die 60er und 70er Jahre in Deutschland/Media Art Action. The 1960s and 1970s in Germany, hrsg. vom Goethe-Institut München und dem ZKM Karlsruhe, Wien und New York 1997, S. 27–33.

13 John Cage, A Year from Monday, London 1968, S. 50.

14 Gates laut Friedrich A. Kittlers Konferenzvortrag Wizards of Oz 1. Offene Quellen und freie Software, Berlin 1999.

15 John Cage, An Anthology, hrsg. von Richard Kostelanetz, New York 1970, S. 209.

16 Söke Dinkla schreibt in ihrem Standardwerk dazu: »Das Motto ›Kunst und Leben‹ wird transformiert in das Motto ›Kunst und Technik‹.« Sie sieht dies auch als Ausdruck einer Mediatisierung der Gesellschaft, geht aber nicht weiter auf den damit verbundenen, ideologischen Paradigmenwechsel ein. Söke Dinkla, Pioniere Interaktiver Kunst von 1970 bis heute, ZKM Edition, Ostfildern-Ruit 1997, S. 41 f.

17 Z. B. untersucht Umberto Eco im letzten Kapitel von Das offene Kunstwerk (1962) unter dem Titel »Zufall und Handlung, Fernseherfahrung und Ästhetik« die Offenheit einer Livesendung als massenmediales Pendant zu den offenen Strukturen der Avantgarde. Er hofft, dass die offenen Strukturen »als überraschender Bruch in einer passiven Aufmerksamkeit« wirken »oder jedenfalls als Anreiz zur Befreiung von der verführerischen Macht des Bildschirms«. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1977, S. 211.

18 Hans Magnus Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch, 20, 1970, Reprint in: ders., Baukasten zu einer Theorie der Medien, München 1997, S. 98. Vgl. die Kritik an dieser Utopie von Jean Baudrillard, der sich dagegen wendet, in den Medien nur das »Relais einer Ideologie« zu sehen, die von den Mächten des Kapitalismus bestimmt wird, sondern sie vielmehr selbst als »Effektoren von Ideologie« zu begreifen. Jean Baudrillard, »Requiem für die Medien« (1972), in: ders., Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 89 f.

19 Vgl. Steven Levy, Hackers. Heroes of the Computer Revolution, New York 1994 (zuerst 1984), S. 52.

20 Levy 1994 (wie Anm. 19), S. 39 ff. Bis heute findet sich die »Hackerethik« auch auf der Website des Chaos Computer Clubs.

21 Hier liegt auch das Problem der Schnittstelle von Scientific Visualisation und Medienkunst, wie es z. B. die Gruppe Knowbotic Research untersucht.

22 Marshall McLuhan, Die Magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden und Basel 1995. Siehe z. B. S. 477 zum Fernsehen als Instrument der Synästhetik.

23 Friedrich A. Kittler, »Fiktion und Simulation«, in: Philosophien der neuen Technologie, hrsg. von Ars Electronica, Berlin 1989, S. 57.

24 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1935), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, II, Frankfurt am Main 1978ff, S. 501. Enzensberger knüpft insofern an Benjamin an, als er hinsichtlich der 60er Jahre von dem »prognostischen Wert ansonsten überflüssiger Veranstaltungen vom Typ der Happenings, der Fluxus- und Mixed-Media-Shows« schreibt. Enzensberger 1970 (wie Anm. 18), S. 131.

25 John Cage erklärt, bei der Uraufführung von Imaginary Landscape No. 4 im Jahre 1951 sei »fast kein Ton« zu hören gewesen. Diese Tonlosigkeit war ihm schon bei der Komposition bewusst. (Richard Kostelanetz [Hrsg.], John Cage im Gespräch, Köln 1989, S. 115.)

26 Durch elektronische Modifikationen des TV-Geräts kann von den Besuchern z. B. mit einem angeschlossenen Mikrofon durch Töne und Geräusche ein oszillierendes Muster auf dem Bildschirm erzeugt werden. Vgl. Frieling und Daniels 1997 (wie Anm. 12), S. 62 f.

27 Bruce Nauman, Ausst.-Kat. Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid, u. a., Minneapolis 1994, S. 77.

28 Für das Video Walk with Contrapposto von 1968 baut Bruce Nauman einen schmalen Korridor, durch den er in Schritten, die an klassische Posen erinnern, auf und ab geht. Dieses zunächst nur für das Video gebaute Requisit stellt er 1969 unter dem Titel Performance Corridor als vom Publikum begehbare Skulptur aus, und 1970 wird es zum Schauplatz einer Closed-Circuit-Videoinstallation: Er versieht den Korridor mit zwei Videomonitoren am Ende des schmalen Ganges und einer Videokamera, die direkt über dem Eingang hängt. Betritt der Betrachter den leeren Live-Taped Video Corridor, so sieht er auf einem der Monitore sein von der Kamera aufgenommenes Bild, der zweite Monitor hingegen zeigt – mittels eines zuvor aufgezeichneten Videobandes – nach wie vor den leeren Gang. Der Versuch, sich über die irritierende Differenz zwischen seiner gleichzeitigen An- und Abwesenheit im Videobild Klarheit zu verschaffen, wird nahezu unmäglich, da der Betrachter, geht er auf die Videomonitore zu, sich von der am Eingang installierten Kamera entfernt und somit im Videobild nahezu verschwindet.

29 Valie Export, Ausst.-Kat. Oberösterreichisches Landesmuseum, Linz, Linz 1992, S. 258.

30 Vgl. auch Valie Exports Expanded-Cinema-Projekt Ping Pong. Ein Film zum Spielen/Spielfilm (1968), in dem der Zuschauer mit einem Ping-Pong-Schläger den Ball auf die wechselnd aufflackernden schwarzen Punkte der Filmleinwand schlagen soll. Laut Export wird so das »Herrschaftsverhältnis von Produzent und Konsument« deutlich, denn auch als Mitspieler bleibt der Zuschauer völlig von den Vorgaben des Films abhängig.

31 Eine genauere Darstellung der Technikentwicklung geben z. B. Peter Weibel, »Virtuelle Realität: Der Endo-Zugang zur Elektronik«, in: Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, hrsg. von Florian Rötzer und Peter Weibel, München 1993, S. 15–46, und die bisher umfassendste Studie zur interaktiven Kunst von Söke Dinkla 1997 (wie Anm. 16), S. 50–62.

32 Vgl. Ivan Sutherland, The Ultimate Display. Proceedings of IFIPS Congress 1965, New York, New York, Mai 1965, Bd. 2, S. 506–508; ders., Computer Inputs and Outputs. Scientific American, September 1966; Rötzer und Weibel 1993 (wie Anm. 31), S. 18, 25.

33 Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Reinbek bei Hamburg 1969/1985, S. CXXXIX.

34 Ebd., S. CLXXV.

35 Nicolas Schoeffer, »Die Zukunft der Kunst – die Kunst der Zukunft«, in: Nicolas Schoeffer, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1968.

36 Vgl. dazu das »EAT«-Programm (Experiments in Art and Technology) am Los Angeles County Museum ab 1967 und Cybernetic Serendipity. The Computer and the Arts, hrsg. von Jasia Reichardt, Ausst.-Kat. Studio International, London 1968.

37 Vgl. Künstliche Spiele, hrsg. von Georg Hartwagner u. a., München 1993.

38 Ein Beispiel von seltener Identität von Technik und Inhalt liefert in diesem Sinne eines der ersten visuellen Kunstwerke mit computergesteuerter Interaktion, das Programm »Random War« von Charles Csuri, das, ausgehend von einer zufallsbestimmten Konstellation, den Ablauf einer Schlacht zwischen zwei Soldatengruppen simuliert. Vgl. Reichardt 1968 (wie Anm. 36), S. 81.

39 Rötzer und Weibel 1993 (wie Anm. 31), S. 27.

40 Die meisten hier nur kurz vorgestellten aktuellen Beispiele sind auf der CD-ROM Medien Kunst Interaktion dokumentiert und stammen deshalb schwerpunktmäßig aus dem deutschen Sprachraum. Rudolf Frieling und Dieter Daniels, Medien Kunst Interaktion. Die 80er und 90er Jahre in Deutschland/Media Art Action. The 1980s and 1990s in Germany, hrsg. vom Goethe-Institut München und dem ZKM Karlsruhe, Wien und New York 2000. Siehe auch die Onlineversion dieses Textes.

41 Ansätze zur einer Verbindung von Popkultur und Interaktivität finden sich auch im Umfeld der Medienkunst, so bei den Gruppen »Station Rose« und »Die Veteranen«.

42 Noch vor dem Interaktivitätsboom der 90er Jahre schreibt Ann-Sargeant Wooster in dem empfehlenswerten Artikel »Reach Out and Touch Someone. The Romance of Interactivity«: »Most uses of interactivity will probably be confined to mass-market populist entertainment […] and rigidly controlled by media merchants.« In: Illuminating Video, hrsg. von Dough Hall und Sally Jo Fifer, New York 1990, S. 302. Siehe dazu auch Regina Cornwell, »Interactive Art. Touching the ›Body in the Mind‹«, in: Discourse, 14.2, Frühling 1992, S. 209.

43 Jeffrey Shaw hat ab 1993 zusammen mit Ingenieuren und Informatikern des Kernforschungszentrums Karlsruhe das Projekt »EVE – extended virtual environment« entwickelt, das einem Betrachter-interaktiven Panorama entspricht. 1997 hat er zusammen mit dem Fraunhofer Institut Stuttgart das Projekt »conFIGURING the CAVE« in einem für Forschungszwecke entwickelten »Cave Automatic Virtual Environment« (einer begehbaren 3D-Simulation) durchgeführt.

44 Diese Entwicklung wird seit 1998 von Horst Bredekamp und Oliver Grau untersucht in dem DFG-Forschungsprojekt Kunstgeschichte und Medientheorien der Virtuellen Realität am Kunsthistorischen Seminar der Humboldt Universität Berlin.

45 Peter Weibel war an Valie Exports Aktion als Publikumsanimateur beteiligt.

46 Vgl. Peter Weibel, »Der Vorhang von Lascaux«, in: First Europeans. Frühe Kulturen – moderne Visionen, Ausst.-Kat., Berlin 1993, S. 78 f.

47 Plewe in einer E-Mail an den Autor.

48 Richard Kriesche, Artificial Intelligence in the Arts, Graz 1985, S. 13. Vgl. Abdruck in: Frieling und Daniels 2000 (wie Anm. 40), S. 198–203.

49 Vgl. Stahl Stenslie, »Cyber SM«, und Kirk Woolford, »A Touch at the End of the Century«, beide in: Lab 1. Das Magazin der Kunsthochschule für Medien, Köln 1994, S. 40–43, 72–75.

50 Douglas Davis, »Interview mit David Ross«, in: Video Art. An Anthology, hrsg. von Ira Schneider und Beryl Korot, New York und London 1976, S. 33.

51 Rosalind Krauss, »Video. The Aesthetics of Narcissism«, in: October, 1, 1976.

52 Vgl. Jeffrey Shaw im Gespräch mit Florian Rötzer, »Reisen in der virtuellen Realität«, in: Kunstforum, 117, 1992, S. 295 f.

53 Erst mit der Ende der 90er Jahre beginnenden Synthese von 3D-Grafik und Internet werden solche virtuellen Museen auch zu möglichen Kommunikationsorten. Vgl. Volker Grassmuck, »Das lebende Museum im Netz«, in: Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, hrsg. von Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen, München 1999, S. 231–251.

54 Vgl. Roy Ascotts schon 1983 umfassende und konkrete Thesen zu »Kunst und Telematik«, in: Art Telecommunication, hrsg. von Heidi Grundmann, Wien und Vancouver 1984, S. 25–59.

55 Vgl. Les immatériaux (Bd. 1: Epreuves d’écriture, Bd. 2: Album. Inventaire), hrsg. von Jean-François Lyotard, Centre Georges Pompidou, Paris 1985.

56 Vgl. Sherry Turkle, Live on the Screen, New York 1995, Deutsch: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek 1999, S. 290 ff.

57 Vgl. Gene Youngblood, »Der virtuelle Raum. Die elektronischen Umfelder von Mobile Image«, in: Ars Electronica, Linz 1986, S. 289–302.

58 Manifest der Internationalen Stadt Berlin, 1994.

59 Vgl. Gottfried Kerscher und Joachim Blank, »Brave New City«, in: Kritische Berichte, 1, 1998, Themenheft Netzkunst, S. 10–16.

60 Gespräch mit Wolfgang Staehle in New York, März 2002. Weiteres Vorbild für The Thing ist das 1985 aus der kalifornischen Alternativbewegung hervorgegangene erste öffentliche Usenet-Forum The Well, das als kommerzieller Provider und als offenes Konferenzsystem für eine Vielzahl von Interessensgruppen fungiert. The Well konzentriert sich jedoch schon wegen der Telefonkosten auf die Region San Francisco und bleibt rein amerikanisch.

61 Staehle, in: Vera Graf, »Kunst im Informationszeitalter«, in: Süddeutsche Zeitung, 22. März 1994, S. 11.

62 Vgl. Dieter Daniels, »Utopie – Wozu?/Utopia – What For?«, in: Ingo Günther. Republik.com, hrsg. von Susanne Rennert und Stephan von Wiese, Kunstmuseum Düsseldorf, Ostfildern-Ruit 1998, S. 48–61.

63 Äda-Web und Public Netbase gingen beide Anfang 1995 ans Netz und haben mit Künstlern internetspezifische Werke produziert und in einen theoretischen Kontext eingebettet. Äda-Web musste den aktiven Betrieb 1998 einstellen, weil sich der Sponsor aus der Telekommunikationsindustrie zurückzog, und wurde als im Netz zugängliches Archiv an das Walker Art Center verkauft.

64 Vgl. dazu die durch ihre wechselseitigen Missverständnisse bezeichnende Debatte zwischen Isabelle Graw und Tilman Baumgärtel zur Netzkunst: Isabelle Graw, »Man sieht, was man sieht. Anmerkungen zur Netzkunst«, in: Texte zur Kunst, 32, 1998, S. 18–31; Tilman Baumgärtel, »Das Imperium schlägt zurück!«, in: Telepolis, Onlinemagazin, 20. Januar 1999.

65 Die Moskauer Netzkunstgalerie Art Teleportacia von Olia Lialina hat zwar bereits viel Presseaufmerksamkeit erhalten, aber dennoch bisher nur ein eigenes Werk der Galeristin verkauft. Der private Kauf des Projekts www.antworten.de von Holger Friese und Max Kossatz durch die Sammler Hannelore und Hans-Dieter Huber war immerhin der New York Times Online eine Notiz wert.

66 Agentur Bilwet hat folgende Bücher veröffentlicht: Bewegungslehre, 1991; Medienarchiv, 1993; Der Datendandy, 1994; Elektronische Einsamkeit, 1997; vgl. auch Netzkritik, hrsg. von nettime, 1997, und Read Me! Filtered by Nettime. ASCII Culture and the Revenge of Knowledge, hrsg. von Josephine Bosma u. a., New York 1999.

67 Vgl. Stefan Römer, »Interaktivität ist die größte Lüge«, in: Texte zur Kunst, 32, 1998, S. 70–73; Alexei Shulgin, Art, Power, and Communication, Syndicate Mailing List, 7. Oktober 1996.

68 Jean Baudrillard 1978 (wie Anm. 18), S. 91.

69 Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, hrsg. von Robert Pfaller, Wien und New York 2000.

70 Auf vergleichbare Weise führt schon Valie Exports erste interaktive Videoinstallation Autohypnose (1973) die Konditionierung des Betrachters durch ein abzuschreitendes Verhaltensprogramm und die Belohnung durch Beifall vom Videoband vor.

71 »Wann immer sie dem passiven Zustand des Zwangskonsumenten sich zu entwinden trachten und sich ›aktivieren‹, verfallen sie der Pseudoaktivität. […] Ihre Ekstase ist ohne Inhalt. Dass sie zustande kommt, dass der Musik gehorcht wird, das ersetzt den Inhalt selber.« Theodor W. Adorno, »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 14, S. 41 ff.

72 Vgl. dazu Armin Medosch, »Kunstpreis an Linux«, in: Telepolis, Onlinemagazin, 1. Juni 1999.

73 Vgl. auch Jean Baudrillard, für den die Medien selbst eine Ideologie hervorbringen, statt nur ihr Mittel zu sein (ders. 1978 [wie Anm. 18]).

74 Hierzu meint Peter Weibel 1989, dass sich die gesamte moderne Kunst auf das Prinzip des »Inter-« hin entwickelt, und macht es zu seinem Programm, sich »auf die eigentlichen utopischen sozialen Möglichkeiten« zu konzentrieren, »welche die Technik bietet, zum Beispiel die Partizipation an und die Interaktion mit dem Kunstwerk als Modell für emanzipatorische Kommunikationsformen«. Peter Weibel, »Momente der Interaktivität«, in: Kunstforum, 103, 1989, S. 87.

75 Vgl. dazu Richard Barbrook und Andy Cameron, »Die kalifornische Ideologie«, in: Netzkritik, hrsg. von nettime, Berlin 1997, S. 32. Hier wird gerade gegen die amerikanische Technikbegeisterung eine eigene europäische Position gefordert, in der sich die »High-Tech-Handwerker mit der Theorie und Praxis der bildenden Kunst wieder in Verbindung setzen«.

76 Brecht 1992 (wie Anm. 10), S. 557.

77 Agentur Bilwet, Elektronische Einsamkeit, Köln 1997, S. 11. Hier heißt es auch: »Nun, da der kurze Sommer der Medien hinter uns liegt und die post-mediale Welt auf sich warten lässt, sind Analyse und Spekulation überflüssig, denn es stehen keine Ereignisse und keine Möglichkeitsräume zur Verfügung. Im nackten Angesicht der Guten Absicht kann man nur noch kotzen« (S. 10).

78 RTL’s Internetsoap Zwischen den Stunden stammt vom Produzenten der TV-Serie Gute Zeiten schlechte Zeiten und wird zu festen »Sendezeiten« geschaltet. Das ZDF entwickelt mit etagezwo eine aufwändigere, netzspezifische Präsentation, aber auch hier kann das Publikum die Handlung nicht beeinflussen. Der interaktive Roman von Arte zielt auf eine vom Publikum verfasste, baumartig verzweigte Handlung mit vorgegebenen Akteuren.

79 Steve Case und AOL-Manager Myer Berlow, in: Christian Tenbrock, »Online sucht Inhalt«, in: Die Zeit, 14. September 2000, S. 32 f.

80 Auch das Productplacement im Reality-TV führt zu einer Verdoppelung des Mediums in der Realität statt zu einer Abbildung der Realität im Medium. Der Medienwissenschaftler Douglas Rushkoff spricht von einer »Verknöcherung der interaktiven Fähigkeiten« des Internets durch die Vermarktungsstrategien. (ders., »Virtuelles Marketing«, in: Rudolf Maresch und Florian Rötzer (Hrsg.), Cyberhypes, Frankfurt am Main 2001, S. 103.)

81 Brecht 1992 (wie Anm. 10), S. 516.

82 Nicholas Negroponte, Total Digital, München 1997, S. 266.

83 Im Jahr 2001 lautete das Thema der Transmediale Berlin »do it yourself« und das der Ars Electronica Linz »take over«.

84 Duchamp 1981 (wie Anm. 1), S. 242.