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Augustustplatz | Rektoratsgebäude | Arbeiterklasse und Intelligenz
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Werner Tübke: Arbeiterklasse und Intelligenz

Im März 1970 wurde der Wettbewerb für die Gestaltung der Wandfläche im Rektoratsgebäude des ersten Universitätsneubaus der DDR (anstelle des teilweise im Krieg zerstörten Schinkelgebäudes, welches die Hörsäle beherbergte) ausgeschrieben. Das Wandbild sollte die Nachfolge des sich vorher an dieser Stelle befindlichen Wandgemäldes von Max Klinger "Die Blüte Griechenlands" antreten. Es ging um die künstlerische Umsetzung des allgemein gefaßten Themas "Arbeiterklasse und Intelligenz sind im Sozialismus unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei untrennbar verbunden".
Hierbei sollten die zeitlichen und personellen Umstände des Leipziger Universitätsneubaus reflektiert und die von Karl Marx formulierten programmatischen Ziele des Sozialismus, die Aussöhnung von Arbeit, Kunst und Wissenschaft verdeutlicht werden. Drei Maler - Lothar Zitzmann, Arno Rink und Werner Tübke - reichten ihre Entwürfe ein.
Werner Tübke legte in einer Reihe von Studien (Detailzeichnungen) sein konkretes und realistisches Konzept vor - eine detailreiche und räumliche Malerei, die konträr zum geometrischen Funktionalismus des neugebauten Universitätsgebäudes steht - und überzeugte die Auswahlkommission. Die Harmonie von "vita activa" und "vita contemplativa" sollte bildlich dargestellt werden als Vereinigung von körperlicher und geistiger Arbeit in einer bühnenartigen Szene mit einer Gemeinschaft sich frei entfaltender Individuen.
Eine Schwierigkeit der Umsetzung lag im ungewöhnlichen Format (ursprünglich geplantes Maß 3,2 x 14 Meter) - es galt auf dieser überstreckten Breite eine Reihe räumlich isolierter, figurenreicher Szenen zu einem einzigen großen Imaginationsraum in einem vorgegebenen Bildfeld mit extremer Höhe-Breite-Relation (anfangs 1:4, später sogar 1:5) zusammenzusetzen. Tübke arbeitete an dem Bild insgesamt drei Jahre und bereitete sich durch ausführliche Studien systematisch auf seine Arbeit vor. So fertigte er beispielsweise ca. 20 Studien zum Herausarbeiten der Gesamtkomposition an, ca. 50 Studien zur Formierung der in ihr einzubringenden Gruppen und trug gruppenbildende Einzelfiguren und Sachstudien zu Ort und Tätigkeiten im Bild durch ca. 80 Zeichnungen zusammen. Im Rahmen der Vorbereitungen zu "Arbeiterklasse und Intelligenz" entstanden schließlich 11 Gemälde, ca. 20 Aquarelle und rund 120 Zeichnungen.
Zunächst arbeitete er an einer zentrumsorientierten, zum Triptichon-Schema tendierenden Gliederung, wobei die gesamte Szenerie im Bild auf einer Art gemaltem Sockel bühnenartig präsentiert werden sollte. Er gelangte über mehrere Zwischenentwürfe zur Endfassung, in der er die strenge Ordnung zugunsten eines lebhaft-wogenden, ineinandergreifenden Gefüges aufgab und eine lebendige Unruhe im Bild entwickelte. Den Anstoß dazu erhielt er auf seiner ersten Italienreise im Mai 1971, wo er sich unter anderem mit dem Spätwerk des Venezianers Tintoretto näher beschäftigt hatte. Tübke äußerte sich 1973 in der Leipziger Universitätszeitung zu seiner Absicht, im Bild "eine Fülle von lebendigen Gestalten zu schaffen" , in dem der Einzelne auch unabhängig von der Funktion des Bildes als Individuum in Erscheinung treten sollte und nicht nur als Element der Gruppe, seiner (sozialen) Klasse oder seines Ranges. So besteht das Bild auch aus ca. 120 zumeist portraithaft wiedergegebenen Einzelgestalten, wobei dem Gesicht eines Arbeiters die gleiche gestalterische Prägnanz zukommt wie der eines Wissenschaftlers.
Die im Bild agierenden Personen - die Szenerie wird allgemein von der Jugend beherrscht - sind zu sechs gleichberechtigten Gruppen zusammengafaßt (Gedankenaustausch, Forschung, Lehre, Lebensfreude, Repräsentation und Arbeit), die sich in einem von links nach rechts bewegenden Figurenfries entfalten und aufgrund ihres gemeinschaftlichen Lernens, Diskutierens und Reagierens miteinander verbunden erscheinen. Sie bilden von sich aus den Raum, entwickeln Bewegungen und setzen dramatische Höhepunkte. Dennoch ist jede Gestalt, jede Haltung, jedes Ding - bis hin zur Farbe der Kleidung - fester Bestandteil einer sorgsam inszenierten und ausgewogenen Komposition. Es entsteht so eine kunstvolle Gruppenästhetik aus dramatisch inszenierten Gesten und Posen. Der besondere Rhythmus im Bild entsteht durch die effektvolle, theatralische Lichtsetzung und Farbwahl (hier vor allem die wiederkehrenden Rot-Gelb-Akkorde). Auffällig ist, daß der Bereich der "Intelligenz" - mit der größten Helligkeit im Rechenzentrum der neuerbauten Universität - heller und farbenprächtiger erscheint als derjenige der Arbeiterklasse. Die "vita contemplativa" erscheint bewegter als die "vita activa", was man als eine "geistige Unruhe" der Forschenden aus der Sicht der Arbeiter begreifen könnte.

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Weiteres zu W. Tübke und seinem Werk "Arbeiterklasse und Intelligenz"

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