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Zwischen Zentrum und Peripherie:

Die Bedeutung alltagsweltlich lokalisierbarer Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit

Susan Baumgartl

Nationalsozialismus und Holocaust gehören zu den zentralen Fixpunkten des historischen Selbstverständnisses der deutschen Gesellschaft. Die Bezugnahme auf den beispiellosen zivilisatorischen Bruch im 20. Jahrhundert stellt ein Kernelement der öffentlichen Gedenkkultur dar. Vielerorts verweisen Gedenktafeln und Mahnmale auf Schauplätze von Gewaltverbrechen, Unrecht und Widerstand während der NS-Zeit. Gedenkstätten informieren an Orten tausendfachen Leidens und Sterbens über die extremen Auswüchse der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Zugleich mehren sich in den letzten Jahren kritische Stimmen, die ihr »Unbehagen« an der gegenwärtigen Gedenk- und Vermittlungspraxis bekunden und für eine Neuorientierung im erinnerungskulturellen Umgang mit dem Nationalsozialismus plädieren.[1]Vgl. Margit Frölich/Ulrike Jureit/Christian Schneider (Hg.): Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt a. M. 2012 sowie in Replik darauf: Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. Programmatische Entwürfe bieten zudem Dana Giesecke und Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012 und Volkhard Knigge: Die Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25 – 26 (2010), S. 10 – 16. Primär geht es dabei um eine Abkehr von ritualisierten, als erstarrt und sinnentleert empfundenen Formen des öffentlichen Erinnerns, die sich in moralisch aufgeladenen Gedenkformeln und dem Bezug auf »das monumentalisierte Grauen der Vernichtungslager« erschöpfen.[2]Siehe dazu Harald Welzer: Für eine Modernisierung der Gedenk- und Erinnerungskultur, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 162 (2011), S. 3 – 9. Eine ähnliche Kritik an Form und Inhalt der gegenwärtigen Erinnerungskultur übt Ulrike Jureit: Geliehene Identitäten. Opferidentifizierung und kollektive Erinnerung, in: Die Zukunft der Erinnerung. Eine Wolfsburger Tagung, (Schriften zur Unternehmensgeschichte von Volkswagen, Band 2), Wolfsburg 2008, S. 85 – 96. Vor dem Hintergrund des sich vollziehenden Zeitenwechsels durch das Verschwinden der teilnehmenden bzw. betroffenen Generation der Zeitzeugen verbindet sich die Frage einer nachhaltigen Präsenz von historischen Erfahrungen für nachfolgende Generationen verstärkt mit der Forderung einer reflexiven Auseinandersetzung mit den alltagsbezogenen Seiten der zunehmend radikalisierten und schließlich totalitär verfassten NS-Gesellschaft, in der Diskriminierung, Entrechtung und Vernichtung von Menschen möglich wurden.[3]Siehe Welzer: Für eine Modernisierung (wie Anm. 2). Eine kritische Replik auf den Ansatz Welzers liefert: Habbo Knoch: Mehr Wissen und mehr Recht: Koordinaten einer zukünftigen Erinnerungskultur, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 163 (2011), S. 3 – 11. Denn so enorm bedeutsam die Zeit des Nationalsozialismus in der öffentlichen Erinnerungskultur ist, so wenig präsent ist das Wissen um örtliche Bezüge und konkrete Ausprägungen dieser Vergangenheit im eigenen Umfeld.

Gerade für eine Stadt wie Leipzig, die zwar vielerorts mit Gedenktafeln und Denkmalen an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert, sich aber nicht auf den ersten Blick als Ort beispielloser Verbrechen und Gewalttaten erkennen lässt, kann der Ansatz eines historischen Erinnerns, das stärker ›gewöhnliche‹ Orte des Unrechts in den Mittelpunkt rückt und die NS-Vergangenheit in ihren lokalen Erscheinungsformen sichtbar und begreiflich macht, neue Impulse für eine nachhaltige Aneignung dieser Vorgeschichte geben. Da mit den Zeitzeugen auch die lebensweltlich verankerte Erinnerung an die damaligen Verhältnisse schwindet, zahlreiche Orte und ihre Geschichte(n) sich nicht unmittelbar erschließen, bietet eine Erweiterung des Bestands öffentlich bekannter historischer oder symbolischer Orte um bisher kaum beachtete lokale Schauplätze der NS-Zeit zusätzliche Anknüpfungspunkte für einen breiter angelegten Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus. In den Blick kommt die Stadt Leipzig damit als wichtiger Ort der Kriegs- und Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg, der Zwangsarbeit Tausender ausländischer Zivilarbeiter, Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge und als Ort der rassistisch, antisemitisch und nationalistisch motivierten Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen, die nicht in die Vorstellung von der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« passten.

Aus den zahlreichen lokalen Anknüpfungspunkten und vorhandenen Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit in Leipzig, wie sie die fotografische Dokumentation im ersten Band von »Orte, die man kennen sollte« kursorisch festhält,[4]Vgl. Dieter Daniels/Torsten Hattenkerl (Hg.): »Orte, die man kennen sollte«. Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit in Leipzig. Dokumentation, Leipzig 2013. entwickelten sich im Laufe des Jahres 2013 mehrere künstlerische Projekte, die sich Fragen des erinnerungskulturellen Umgangs mit bereits vorhandenen Gedenkorten widmeten sowie sich mit historischen Orten auseinandersetzten, die in Verbindung mit der NS-Zeit kaum bekannt waren oder zumindest nicht thematisiert wurden. Das Erkunden der öffentlichen Wahrnehmung von Gedenkorten und das Sichtbarmachen ortsgebundener Geschichte(n) in den verschiedenen künstlerischen Arbeiten stellte sich als eigene Form der Erinnerungsarbeit und vielfach als Anstoß für eine kontroverse (Neu‑)Besichtigung der lokalen NS-Vergangenheit und ihrer öffentlichen Repräsentation dar.

Auch in der Stadt Leipzig erfolgt das offizielle Gedenken an die nationalsozialistische Vergangenheit an festen Daten und Orten im Rahmen ritueller Erinnerungshandlungen. Wie in vielen Kommunen ist der Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 jedes Jahr Anlass für eine zentrale Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer von Nationalsozialismus und Holocaust. Ein Teil der Gedenkfeier findet am historischen Ort des ehemaligen KZ-Außenlagers im Stadtteil Abtnaundorf statt, wo SS-Angehörige und Volkssturmmänner im April 1945 ein Massaker an ca. 300 zurückgebliebenen Häftlingen verübten. Im Verlauf des Gedenktages wird zudem im Neuen Rathaus der ermordeten Stadtverordneten gedacht. Ein weiterer zentraler Ort des Andenkens an Verfolgte und Opfer des NS-Regimes ist der Leipziger Ostfriedhof mit sieben Erinnerungs- und Ehrenmalen, an denen jeweils am 8. Mai Vertreter der Stadt Leipzig an die Toten des Zweiten Weltkriegs erinnern. Beide in der kommunalen Gedenkpraxis zentralen Orte sind am Rande der Stadt gelegen und gelangen lediglich im Rahmen der offiziellen Gedenkfeiern in die öffentliche Wahrnehmung. Dieses Phänomen der räumlich und zeitlich begrenzten Aufmerksamkeit für einen historischen Ort, der vor und nach den formalen Erinnerungshandlungen wieder in seine ganzjährige Unsichtbarkeit zurückfällt, thematisiert die Videointervention »Abtnaundorf« von Jakob Argauer, Danny Degner, Melody Panosian und Jakob Wierzba: Die im Rahmen der städtischen Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2013 realisierte Live-Übertragung des feierlichen Gedenkaktes am Abtnaundorfer Mahnmal auf eine Video-Leinwand in der unteren Wandelhalle des Neuen Rathauses dokumentierte das Geschehen vor Ort – auch über die Dauer der protokollarischen Zeremonie und die Präsenz der versammelten Teilnehmer hinaus. Sichtbar werden die temporäre Belebung der Erinnerungsstätte, die durch das Handeln der Gedenkakteure ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, das allmähliche Leeren des Areals sowie die wieder einkehrende Unbewegtheit der Szenerie. Mit jenem letzten Eindruck des stillen und etwas später der Veranstaltungstechnik beräumten Mahnmalgeländes waren schließlich die Gäste im Fortgang der offiziellen Gedenkfeier im Neuen Rathaus konfrontiert. Die nahezu unbeweglich scheinenden Videobilder vermittelten die lautlose und abgeschiedene Gegenwart des zuvor besuchten Ortes und ermöglichen eine reflektierende Rückschau auf das praktizierte Gedenken. Sie zeigen die starre, steinerne Repräsentation des historischen Geschehens, die außerhalb des Ritus stumm bleibt und ihre – zumindest zeitweise – Bedeutung nur durch das symbolische Handeln der Akteure vor Ort – und in diesem Fall 2013 zusätzlich in der künstlerisch vermittelten Kommunikation der aufgenommenen Bilder – gewinnt.[5]Zur »relevanten Kommunikation« über nationalsozialistische Tat-Orte vgl. Peter Gstettner: Orte mit historischer Belastung. Zu einigen Schwierigkeiten der Gedenkarbeit an Tat-Orten. Referat bei der Tagung »Stigmatisierte Orte – Lernorte für die Zukunft«, Oberwart 22. März 2002, http://www.refugius.at/zip/gstettner02.pdf, S. 4f.

Mit der damit ebenso angedeuteten Notwendigkeit der aktiven gesellschaftlichen Aneignung vorhandener Gedenkorte und ihrer neuerlichen Besichtigung durch nachfolgende Generationen verbindet sich überdies die generelle Frage nach der Aktualität und dauerhaften Relevanz von Denkmalen sowie des erinnerungskulturellen Umgangs mit ihnen. Gerade in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten zeigt sich der Wandel des öffentlichen Gedenkens und die Neuakzentuierung, Umwidmung und Beseitigung von Erinnerungsorten in der Zeit seit 1989/90 eindrücklich. Zahlreiche Gedenktafeln und Denkmale der DDR-Erinnerungskultur in Leipzig und Umgebung sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, ihrer Symbolik entkleidet und ohne Anbindung an die gegenwärtige Gedenkpraxis. Trotz ihrer teils noch zentral gelegenen Standorte auf Plätzen oder in Park- und Grünanlagen fallen sie dem Vandalismus und dem Vergessen anheim. Beispielhaft zeigt die Arbeit »Erbstücke« der Künstlerin Mandy Gehrt die temporäre Gültigkeit der Formen und Inhalte von Gedenkorten anhand des Mahnmals für die Opfer des Faschismus direkt vor dem Rathaus in Markkleeberg. Im bewusst unhandlichen Format einer Archivschachtel werden dazu historische und gegenwärtige Ansichten sowohl des Mahnmals als auch über das Mahnmal zusammengeführt: Neben Archivmaterialien zur Entstehung und Widmung des Gedenkortes 1965 dokumentieren Fotografien aus dem Jahr 2012 den derzeitigen Zustand der nahezu aller Gestaltungselemente ledigen Denkmalsruine. Zudem geben Auszüge transkribierter Interviews mit der lokalen Bevölkerung Einblick in die aktuelle Wahrnehmung und die Erwartungen an den künftigen Umgang mit der Erinnerungsstätte. Das entstandene Buchobjekt hält damit einen Moment des erinnerungskulturellen Wandels am Übergang zwischen Vergessen und Neuaneignung fest.

Durch die dokumentarische Bestandsaufnahme von Gedenkorten sowie die Auseinandersetzung mit lokalen Ausprägungen der nationalsozialistischen Zeit in Leipzig kamen einige neuere Erinnerungsaspekte wie die Anerkennung der Opfer von Zwangsarbeit und die Problematik der Euthanasieverbrechen in den Blick, die erst seit einigen Jahren zum Kanon des öffentlichen Gedenkens gehören. Wie zahlreiche Orte des öffentlichen Gedenkens sind auch die Gedenk- und Erinnerungsstätten zu diesen Kapiteln der NS-Geschichte geographisch eher peripher gelegen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Präsenz der nationalsozialistischen Vergangenheit außerhalb von Gedenktagen und -orten wandten sich einige Künstler/innen verstärkt historischen Orten zu, die sowohl in der vergangenen als auch der gegenwärtigen Lebenswelt als Alltagsorte verstanden und kaum unmittelbar mit der NS-Vergangenheit verbunden werden. Abseits des institutionellen Gedenkens versuchen ihre Arbeiten, der symbolischen Erinnerung an bestimmte Menschen(gruppen) und ihren Schicksalen im »Dritten Reich« am konkreten Ort eine (temporäre) Präsenz zu geben.

So führt die partizipative Aktion »Mercy Killing – Erinnerung an Josef Faust« das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Kinder-Euthanasie, für die seit 2011 eine zentrale Erinnerungsstätte im Friedenspark besteht, an eine der beiden Leipziger Kliniken, in denen zwischen 1939 und 1945 für »lebensunwert« und »volksschädlich« erklärte Menschen ›behandelt‹ und getötet wurden. Im Pförtnerhaus der ehemaligen Universitäts-Kinderklinik in der Oststraße installierte die Künstlerin Susanne Kaiser dazu ein umfangreiches Wandpuzzle aus nummerierten Postkarten mit jeweils verschiedenen Textfragmenten, die sich zu einer auf der Grundlage erhaltener Dokumente angefertigten Beschreibung des 1943 getöteten Jungen Josef Faust verbinden ließen. Die zuvor verteilten Karten luden dazu ein, sie zum Aktionsort in die Oststraße zu bringen und dort mit dem Textpuzzle auch die Erinnerung an Josef Faust symbolisch zusammenzutragen. Neben dieser Einbindung der Besucher nahmen auch Angehörige des verstorbenen Jungen an der Aktion und am Austausch vor Ort teil. Darüber hinaus thematisierten Veranstaltungen und Führungen auf dem historischen Gelände die Rolle Leipziger Mediziner in der Erprobung und Durchführung medikamentöser Kindstötungen im »Dritten Reich«.[6]Zur weiteren Lektüre siehe Berit Lahm (Hg.): 505 Kindereuthanasieverbrechen in Leipzig, Leipzig 2008. Für die Dauer der Kunstaktion entstand am vormaligen Tat-Ort ein lebendiger Erinnerungsraum, der die verbrecherische Praxis wissenschaftlich angeleiteter und politisch legitimierter Krankenmorde anhand des Schicksals eines Betroffenen begreiflich machte. Damit machte die Aktion nicht nur auf die Opfer und ihr Leiden aufmerksam, sondern thematisierte unter Bezugnahme auf die örtlichen Gegebenheiten auch die gesellschaftlich und institutionell getragene ›Normalität‹, sowie die Verantwortung für die Aussonderung und Vernichtung von Menschen.

Anders als der weitgehend reibungslose Verlauf der Erinnerungsaktion auf dem Gelände der ehemaligen Universitäts-Kinderklinik sahen sich die beteiligten Künstler/innen eines anderen Projektes, das die Rückbindung eines öffentlich präsenten Gedenkthemas an einen alltagsweltlichen bzw. historischen Ort geplant hatte, eher mit Widerständen gegen das eigene Vorhaben konfrontiert. Beispielhaft sollte die Aktion »This house never existed« der Künstler/innen Rasmus Eulenberger, Martin Haufe und Deborah Jeromin die alltägliche Präsenz von Zwangsarbeit und besonders die konkrete Existenz eines Gemeinschaftslagers an einem Alltagsort der NS-Zeit und einem auch heute zentral gelegenen Ort verdeutlichen. Anders als die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem in Leipziger Rüstungsbetrieben zur Zwangsarbeit eingesetzten KZ-Häftlinge, die u. a. am Standort der Erla-Maschinenwerke im entlegenen Stadtteil Abtnaundorf in Lager gesperrt waren, wurden Tausende zwangsverpflichtete ausländische Arbeiter in sogenannten Sammelunterkünften untergebracht.[7]Vgl. Thomas Fickenwirth/Birgit Horn/Christian Kurzweg: Fremd- und Zwangsarbeit im Raum Leipzig 1939 – 1945. Archivalisches Spezialinventar. Hg. von der Stadt Leipzig 2004. Da sie in großen Betrieben, bei der Post, der Reichsbahn, im Einzelhandel und im Handwerk, in privaten Haushalten sowie im kommunalen Dienstleistungs- und Versorgungssektor eingesetzt waren, befanden sich ihre Unterkünfte im gesamten Stadtgebiet. Auf dem Gelände hinter dem Gebäude in der Karl-Liebknecht-Straße 30 (vormals Adolf-Hitler-Straße), in dem sich heute die Gaststätte »Volkshaus« und der Sitz des Deutschen Gewerkschaftsbunds befinden, richtete die Deutsche Arbeitsfront das Gemeinschaftslager »Vaterland« für die Zwangsarbeiter der Erla-Maschinenwerke ein. Die Kunstaktion nun sah vor, mit einer Projektion auf die straßenseitige Fassade des Gebäudes auf die vormalige, nun nicht mehr sichtbare Existenz des Lagers und damit zugleich auf einen in der Öffentlichkeit kaum bekannten Aspekt des vor allem arbeits- und gewerkschaftshistorisch bedeutsamen Ortes hinzuweisen. Das recht kurzfristig anberaumte künstlerische Vorhaben stieß auf geteilte, mehrheitlich jedoch ablehnende Reaktionen und konnte letztlich nicht umgesetzt werden. Konfliktstoff bot offenbar das primär mit dem Gebäude als traditionellem Sitz der Gewerkschaften verbundene historische Selbstverständnis als Ort der Repressionserfahrungen und des Widerstands gegen das NS-Regime. Die von den Künstlern hergestellte Verknüpfung des Ortes mit der ebenfalls im ›normalen‹ NS-Alltag gegenwärtigen Situation der Zwangsarbeiter bedeutete möglicherweise eine empfindliche Störung des öffentlich kommunizierten Bildes als eindeutig definiertem Opfer-Ort, der eine klare Zuweisung von Täterschaft an »die Nazis« erlaubt. Mit der erinnerungskulturellen Nachbarschaft einer ehemaligen Unterkunftsbaracke für Zwangsarbeiter verkompliziert sich eventuell die strikte Trennung von Tätern und Opfern.[8]Für eine differenzierte Sicht auf historische Handlungskontexte plädieren Volkhard Knigge: Erinnerungskultur zwischen Vergangenheitsgerede, Geschichtspolitik und historischer Selbstreflexion, in: Die Zukunft der Erinnerung. Eine Wolfsburger Tagung, (Schriften zur Unternehmensgeschichte von Volkswagen, Band 2), Wolfsburg 2008, S. 61 – 69, bes. S. 68 sowie Welzer: Für eine Modernisierung (wie Anm. 2). Denn eine Auseinandersetzung mit Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz und der Mitverantwortung der Bevölkerung an erlittenem Unrecht setzt voraus, dass auch Ambivalenzen der historischen Wirklichkeit zugelassen werden. Aufgrund der Bedenken einiger Nutzer des ausgewählten Gebäudes, den vormaligen Alltagsort der Zwangsarbeiter als solchen sichtbar zu machen und damit die gegenwärtige Nicht-Präsenz dieser Geschichte am konkreten Ort zu thematisieren, blieb die sich bietende Gelegenheit ungenutzt, einen bestehenden Erinnerungsort mehrfach zu »besetzen«.

Auch in der offiziellen Gedenkpraxis der Stadt Leipzig findet sich bisher kaum eine öffentlich wahrnehmbare Auseinandersetzung mit den komplizierten, aber alltäglichen Struktur- und Handlungszusammenhängen der (Mit-)Verantwortung und (Mit-)Täterschaft in der NS-Zeit. Über die im Rahmen des zentralen Andenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Vergangenheit abgelegten Bekenntnisse zur historischen Verantwortung für begangenes Unrecht hinaus, erfährt die Referenz auf die Täter kaum eine Konkretisierung, noch erhält sie eine feste Bezeichnung im öffentlichen Raum. So findet sich neben der symbolischen Erinnerung an die zwischen 1933 und 1945 ermordeten Leipziger Stadtverordneten durch eine Gedenktafel in der Oberen Wandelhalle des Neuen Rathauses und dem vor dem Gebäude befindlichen Goerdeler-Ehrenmal kein Hinweis auf den historischen Ort als Tat-Ort. Die (be-)greifbaren örtlichen Bezüge zu den Struktur- und Handlungszusammenhängen der Mitwirkung städtischer Behörden an der Um- und Durchsetzung menschenverachtender Verordnungen bleiben somit ein Nicht-daran-rühren-Thema.[9]In Anlehnung an die »Bitte-nicht-daran-rühren-Erinnerung«, die Peter Gstettner im Umgang mit »belasteten« Orten konstatiert. Siehe Gstettner: Orte mit historischer Belastung (wie Anm. 5), S. 4. Möglicherweise kann ein künstlerisch vermittelter Zugang des historischen Erinnerns an ›gewöhnlichen‹ Orten den Anstoß geben, die spezifische Ambivalenz des historischen Schauplatzes kommunaler Machtausübung, verwalteter Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung sowie des Widerstands zu thematisieren.

Durch das Sichtbarmachen alltagsweltlich lokalisierbarer Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit erhält die Erinnerung an begangenes und erlittenes Unrecht eine größere Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung. Anders als das ritualisierte Gedenken an den dem Alltag enthobenen, peripher gelegenen Orten kann eine stärkere Hinwendung zu vermeintlich unscheinbaren, alltäglicheren Orten das eigene Umfeld als geschichtlich geprägten Raum begreifbar werden lassen. Die mit ihnen verbundene(n) vielteilige(n), ambivalente(n) oder gar widersprüchliche(n) Geschichte(n) ermöglichen überdies, historisches Wissen an eigene Erfahrungen und lebensweltliche Zusammenhänge rückzukoppeln. Die lokale Gegenwartswelt wird so zum Gedenk- und Lernraum.

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