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Orte, die sich wegschauen

Zum Beispiel im Musikviertel

Britt Schlehahn

Das Leipziger Musikviertel entstand in den 1880er Jahren und bildet den herrschaftlichen Anspruch des Bildungsbürgertums ebenso detailliert ab wie auch den der großbürgerlichen Unternehmer, die dieses neue Wohngebiet rasch bevölkerten. Im Unterschied zum angrenzenden Westviertel,[1]Vgl. Hanns Börner, Nils Gormsen, Hella Müller: Das verlorene Leipziger Westviertel, Leipzig 2007. welches Karl Heine seit den 1840er Jahren initiierte, fanden sich hier weder eng bebaute Areale mit Kleinwohnungen in schlichten Mietskasernen noch großflächige Gewerbeeinheiten. Vielmehr teilt es bis heute – abgesehen von den Neubauten, die in der DDR entstanden und der bis heute andauernden Besiedlung von Kriegsbrachflächen durch sogenannte Stadthäuser – eine Idealvorstellung von Bürgerlichkeit mit.[2]Das Musikviertel ist zugleich Standort wichtiger Einrichtungen der Universität Leipzig und der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Es zeichnet sich durch einen äußeren Villenkreis aus, der im Norden an die bereits vorhandenen Villen des Westviertels anschließt bzw. sich zur Parkseite in Richtung Süden durchzieht. Den großzügig geschnittenen Mietwohnungen von ursprünglich 200 bis 480 qm Wohnfläche in mondänen Häusern, die einzeln mit einem gehörigen Abstand zur nächsten Bebauung stehen, schließen sich Doppelmiethäuser in den weiteren Straßenzügen an. Am Rande des Viertels – wie beispielsweise in der Lampestraße – finden sich typisch geschlossene Gründerzeitwohnzeilen, die sich hier allerdings auch per Bauschmuck an den umliegenden repräsentativen Gebäuden orientieren. Daher scheint das Viertel auch in der heutigen Vermittlung von städtischen Raumzusammenhängen auf den ersten Blick als Ort ohne sichtbare Schattenseiten auf – abgesehen von den Kriegsschäden an der Bausubstanz, dem am 09.11. 1936 erfolgten Abriss des Mendelssohn-Denkmals und der sogenannten Polenaktion[3]Vgl. Susanne Heim (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Band 2, München 2009, S. 52. von 1938.

So liest sich demzufolge auch die Einladung für eine Führung im Jahr 2013: »Im Musikviertel, das um 1900 zu Leipzigs vornehmster Wohngegend aufsteigt, ließen sich Industrielle, Bankiers und Regierungsbeamte und viele Verleger nieder. Zahlreiche der hier errichteten palastartigen Villen sind noch erhalten.«[4]Vgl. http://www.leipzigdetails.de/ (Oktober 2013). Hier wird nicht nur das gewünschte Ideal fortgeführt, sondern es werden auch historische Tatsachen harmonisiert. Im Folgenden soll daher der Fokus auf alltäglichen, schnell zu vergessenden Erinnerungskomplexen jenseits von ritualisierten und institutionell bereits etablierten Zusammenhängen liegen, bei denen ich mich auf jüdische Haushaltungen konzentriere, die einerseits im Gemeindeadressbuch von 1933[5]Vgl. Ephraim Carlebach Stiftung (Hg.): Leipziger Jüdisches Jahr- und Adressbuch 1933, Reprint Berlin 1994. zu finden sind und andererseits auf Daten beruhen, die ich mittels Städtischer Adressbücher aus den Jahren 1921 – 42 im Vergleich zu den Angaben jüdischer Opfer des Nationalsozialismus[6]Vgl. Ellen Bertram: Menschen ohne Grabstein. Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 2. erw. Auflage, Leipzig 2011. ermitteln konnte.

Jüdisches Leben spielte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Ermöglichung des bürgerlichen Rechts zu Messezeiten, im Brühl und rund um den heutigen Richard-Wagner-Platz ab. Hans Reimann schreibt 1929: »Im Nordviertel ist das Ghetto. In drei Abstufungen: Gerberstraße – Nordstraße, Humboldtstraße, Funkenburgstraße – Kickerlingsberg.«[7]Hans Reimann: Das Buch von Leipzig (1929), Leipzig 1995, S. 23. Vgl. auch Barbara Kowalzik: Jüdisches Erwerbsleben in der inneren Nordvorstadt Leipzigs 1900 – 1933, Leipzig 1999. Die Stigmatisierung »Ghetto« weist auf die hohe Anzahl – insbesondere aus Osteuropa stammender – jüdischer Bevölkerung im Waldstraßenviertel und der Nordvorstadt unmittelbar vor der Machtübernahme 1933 hin.

Im Musikviertel ließen sich zuerst die Bankiersfamilien Sieskind, Schreiber und Nachod nieder. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt eine zweite Zuzugswelle mit Familien wie Heine, Ury, Kroch. Nach 1933 emigrieren Familien wie Ariowitsch über England in die USA, andere wanderten entweder nach Frankreich oder in die Niederlande aus und waren vor Deportationen nicht geschützt, Familien, die in Leipzig blieben – wie Schreiber – bezogen bis zur Einweisung in Judenhäuser und der späteren Deportation Wohnungen innerhalb des Viertels.

Ausgehend vom Adressbuch aus dem Jahr 1933 konnte eine vorläufige Zahl von 162 jüdischen Haushaltungen im Musikviertel ermittelt werden. Die Mehrheit ging dem Kaufmannsberuf nach. Dabei ist zu beachten, dass zumeist das Familienoberhaupt registriert war. Frauen, wenn sie nicht alleinstehend lebten, tauchten somit ebenso wenig auf wie Minderjährige. Insgesamt lebten im Juni 1933 11.564 Glaubensjuden in 5.718 Haushaltungen in Leipzig und stellten damit 1,6 % der Gesamtbevölkerung.[8]Vgl. Kerstin Plowinski: Die jüdische Bevölkerung 1853 – 1925 – 1933. Sozialgeschichtliche Fallstudien zur Mitgliederschaft einer Großgemeinde, Diss., Leipzig 1991. Auch wenn die Zahl im Musikviertel eher gering erscheint, gab das Nichtauftauchen von Familien wie Nachod, Schreiber, Sieskind, Ariowitsch oder Kroch in der bisher einzigen umfassenden Publikation zum Viertel[9]Vgl. Musikviertel e.V. (Hg.): Das Leipziger Musikviertel, Leipzig, o. J. (1997). Erwähnung finden: »Jüdische Absolventen des Leipziger Konservatoriums«, S. 42 – 45. Auf Wikipedia werden Asenijeff, Ariowitsch, Pevsner und Raphael genannt. Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Musikviertel_(Leipzig)&oldid=121551689 (Oktober 2013). Im Katalog der ständigen Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums finden sich weder Ariowitsch, Nachod, Schreiber noch Sieskind. Vgl. Volker Rodekamp (Hg.): Moderne Zeiten. Leipzig von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Leipzig 2013. Anstoß, um eine erweiterte Recherche vorzunehmen, die sich im vorliegenden Text auf exemplarische Straßenzüge konzentriert und eine gekürzte Variante einer Stadtwanderung durch das Viertel im Juli 2013 wiedergibt.

Die Karl-Tauchnitz-Straße bildet den äußeren Ring des Musikviertels und »sicherte« mit »Quadratmeterpreise[n] bis 350 Reichsmark, dass nur der vermögendste Teil des Leipziger Großbürgertums hier bauen«[10]Börner et al.: Westviertel, S. 44 (wie Anm. 1). bzw. nachfolgend die Häuser erwerben konnte. Von diesem Image lebten nach 1935 auch die im Zuge der Arisierung vorgenommenen Veränderungen – so siedelten sich die NS-Frauenschaft ebenso an wie die Sparkasse Leipzig,[11]Die Villa Nr. 17 erwarb die Sparkasse nach 1933. Ab 1937 lebte Freyberg mit seiner Familie bis zum Suizid im Neuen Rathaus dort. die dem Oberbürgermeister Alfred Freyberg eine Wohnung zur Verfügung stellte. Um so irritierender stellt sich der Fakt dar, dass im Artikel »Ein Gesetz schafft Ordnung« in den Leipziger Neuesten Nachrichten[12]Der Eigentümer der Zeitung – Edgar Herfurth – wohnte in der Karl-Tauchnitz-Str. 11, heute Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. (31.10.1939) neben den darin gelisteten 46 Judenhäusern vor allem im Waldstraßenviertel und der Nordvorstadt auch die Karl-Tauchnitz-Str. 8 genannt wird. Sie lag nicht nur auf dem Weg des OBM zu seiner Arbeitsstelle, sondern auch in unmittelbarer Nähe zum Amt zur Förderung des Wohnungsbaus (sogenannte »Judenstelle«) in der Harkortstraße 1, die seit Mitte 1939 damit beschäftigt war, die Ausmietung von jüdischen Bürger/innen in sogenannte Judenhäuser zu lenken.[13]Vgl. Steffen Held: Die Leipziger Stadtverwaltung und die Deportation von Juden im NS-Staat, Leipzig 2008.

Diese Villa ging zu Beginn der 1920er Jahre in den Besitz von Albert Hirschfeld über, der Firmenteilhaber des 1907 von den Gebrüdern Hirschfeld in Leipzig eröffneten Damen- und Kinderkonfektionsgeschäfts in der Petersstraße 40/42 war. Er verstarb 1931 und seine Witwe Emmy (* 1897 in Hildesheim) wohnte bis zu ihrem Umzug 1940 nach Hildesheim gemeinsam mit dem Sohn Heinz Otto (* 1921 in Leipzig) in dem Haus. Sie starben 1943 im Warschauer Ghetto. Ebenfalls in dem Haus lebten Siegfried Berliner (1884 – 1961) und seine Frau Anna (1888 – 1971).[14]Vgl. Siegfried Hoyer: Jüdische Studentinnen an der Universität Leipzig 1906 – 1918, in: Ilse Nagelschmidt (Hg.): 100 Jahre Frauenstudium an der Alma Mater Lipsiensis, Leipzig 2007, S. 159 – 174, hier S. 172ff. Berliner[15]Seine Schwester Cora Berliner (1890 – 1942) promovierte 1916, 1930 erhielt sie eine Professur für Wirtschaftswissenschaften am Berufspädagogischen Institut Berlin und war nach ihrer Entlassung 1933 bis zu ihrer Deportation in der Reichsvereinigung für Juden in Deutschland u.a. in der Auswanderungsabteilung 1942 tätig. arbeitete von 1909 – 13 als Oberlehrer der Öffentlichen Höheren Handelslehranstalt in Leipzig (Löhrstraße 3 – 5).[16]Vgl. Kowalzik, S. 57ff (wie Anm. 7). Seit 1925 leitete er die Lloyd Lebensversicherung, emigrierte 1938 in die USA und nahm eine Professur an der Howard-Universität in Washington an. Anna Berliner promovierte bei Wilhelm Wundt und lehrte Allgemeine und Visuelle Psychologie an den Universitäten in Chicago und Forest Grove. 1941 erfolgte die Enteignung des Hauses, jedoch fungierte es nicht wie vorgesehen als »Judenhaus«, vielmehr zog die NS-Frauenschaft ein und die Nr. 8 wandelte sich zum »Haus der deutschen Frau«.

In der Karl-Tauchnitz-Straße 14 wohnte Max Ariowitsch (* 1880 in Leipzig – 1969 New York), Sohn von Julius und Louise Ariowitsch.[17]Vgl. Ariowitsch-Haus, in: Orte, die man kennen sollte, S. 189 – 190. Gemeinsam mit seiner Frau Marie und den zwei Söhnen emigrierte er 1935 nach London und 1940 weiter nach New York. 1941 erfolgte die Liquidierung der Firma Julius Ariowitsch-Rauchwaren, Brühl 71. Seine Schwester Antoni war mit Dr. Herman Halberstam (1864 – 1942) verheiratet – dem Mitbegründer der Ariowitsch-Stiftung. Gemeinsam bewohnten sie bis zur Emigration in die USA ein Haus in der Ferdinand-Rhode-Straße 28, das sich ebenfalls in Familienbesitz befand.[18]Dort wohnte auch der Verlagsbuchhändler Rudolf Schick, der als Vorsitzender der Höheren Israelitischen Schule tätig war.

Die Villa Nr. 27 errichtete Max Pommer für die Familie Friedrich Nachod, der wie sein Vater Jacob als Bankier im 1853 gegründeten Bankhaus Knauth, Nachod & Kühne tätig war. Sein Sohn – Dr. phil. Hans Nachod (* 1885 in Leipzig) – wurde als einer der Leipziger »Kunstkritikerpäpste«[19]Gemeinsam mit Edgar Delpy und Max Schwimmer. Vgl. Reimann, S. 155 (wie Anm. 7). Dort befindet sich auch eine Karikatur von Walter Buhe mit den drei Herren vor einem Bild mit einer nackten Frau stehend. Buhe – Prof. an der Kunstakademie – wohnte in der Schwägrichenstraße 19. Bekanntheit erreichte er durch seine Porträtstudien »Die Leute in Rosendorf: Sudetendeutsche Charakterköpfe« (1937). bekannt. Initiierte sein Großvater 1844 die Gesellschaft der Freunde, aus der 1846 die Israelitische Religionsgemeinschaft hervorging, so konvertierten er, seine Mutter Marie sowie sein Bruder Walter zum Protestantismus und schlossen sich dem »Paulusbund, Vereinigung nichtarischer Christen«[20]Vgl. Jens Trombke: St. Petri Leipzig. Zur Geschichte der Leipziger Peterskirche und ihrer Gemeinde, Leipzig 2012, insbesondere das Kapitel »Die Peterskirchgemeinde und ihre jüdischen Konvertierten«, S. 167 – 197, hier S. 184. Trombke geht davon aus, dass Hans Nachod erst nach dem Tod des Vaters (1910) konvertierte – allerdings ist in seinem Lebenslauf zur Dissertation (1909) bereits vermerkt »evang.-luth.« an. 1921 war Hans Nachod zudem in der Peterskirche Taufpate seines Freundes Paul Stern.[21]Paul Stern (* 1888 in Köln) arbeitete als Schriftsteller und Übersetzer und wohnte in der Grassistr. 26, danach im Judenhaus Humboldtstr. 10. Nach seiner Verhaftung starb er am 13.01.1944 in Theresienstadt. Mit den Nürnberger Gesetzen wurde Nachod als »Volljude« eingestuft. Nachdem auf das Haus in der Progromnacht 1938 ein Überfall erfolgte, zog die Familie in die dritte Etage der Mozartstraße 7. Am 27.03.1939 wanderten sie zuerst nach Holland und 1941 nach New York aus. Nachod starb dort 1958. Finanziell unterstützt von Herfurth konnte das Museum der bildenden Künste 1939 Max Klingers »Tanzreigen« aus der Sammlung Nachod ankaufen.[22]Vgl. Dietulf Sander: Provenienzforschung am Museum der bildenden Künste Leipzig, in: Monika Gibas (Hg.): »Arisierung« in Leipzig. Leipzig 2007, S. 276 – 287. Als neuer Eigentümer in der KarlTauchnitz-Straße wird im Adressbuch 1939 der Direktor von der Devrient Verlagsgesellschaft – Ludwig Devrient – genannt.

In der 1884 angelegten Wächterstraße mischen sich Erst- und Zweitbezieher mit jüdischem Familienhintergrund. Auch hier finden sich hauptsächlich Villen. Zu den ersten Bewohnern gehörte in der Nr. 15, die Max Pommer 1891 errichtete, der Bankier Dr. Jakob Sieskind (* 1872 in Leipzig). Sieskind arbeitete im 1852 gegründeten Bankgeschäft H. C. Plaut. Nach 1940 lebte er in dem Judenhaus Gustav-Adolf-Straße 7. Er wurde am 11.11.1942 wegen Vergehen gegen die Kriegswirtschaftsordnung verhaftet und am 23.12.1942 nach Auschwitz deportiert, wo er am 10.01.1943 starb. Familie Schreiber aus der Beethovenstraße 16 musste nach der Zwangsversteigerung 1938 aus der Villa ausziehen und zog in die Grassistraße 36, dritte Etage. Im Gegensatz zu seinem Onkel Sieskind wohnte Albert Schreiber (1886 in Leipzig – 1944 in Auschwitz) bis zur Deportation im Judenhaus Färberstraße 11. Die Villa Sieskind und die Villa Schreiber bildeten seit 1950 die Theaterhochschule »Hans Otto«. In der Villa Sieskind befindet sich heute der Sitz von der Immobilienfirma GRK Holding. Die Villa Schreiber wurde von der Areal Objekt GmbH als Wohnobjekt entwickelt.

Im Gegensatz zu diesen heute nicht gekennzeichneten Villen findet sich am Zaun der Wächterstraße Nr. 32 – dem heutigen Gästehaus der Stadt Leipzig – eine Gedenktafel, die an die Polenaktion am 28.10.1938 und die Abschiebung aller aus Polen stammenden Juden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, erinnert. Von 1936 – 39 arbeitete das Polnische Generalkonsulat in dem Haus, das seit 1918 von der Kaufhausfamilie Ury[23]Vgl. Andrea Lorz: Das »Haus der volkstümlichen Preise«. Das Warenhaus Ury Gebrüder am Königsplatz, in: Dies.: Suchet der Stadt Bestes. Lebensbilder jüdischer Unternehmer aus Leipzig, Leipzig 1996, S. 12 – 41. bewohnt worden war. Sie emigrierte 1938 in die Schweiz, die Liquidierung des Kaufhauses erfolgte 1941.

Die Nachbarvilla Nr. 34 wurde 1907/08 von den Architekten Zweck & Walther für den Druckereibesitzer Johannes Giesecke errichtet, der 1913 starb. Von 1918 bis zur ihrer Emigration 1938 lebte hier die Familie von Max Hermann Heine (1877 – 1933).[24]Vgl. Andrea Lorz: »Strebe vorwärts«. Lebensbilder jüdischer Unternehmer in Leipzig, Leipzig 1999, insbesondere S. 14 – 81. Im Zuge der Arisierung musste die Erbgemeinschaft das Haus 1943 an die NSDAP verkaufen. Ihr Kunstbestand ging in den Besitz des Museums der bildenden Künste über.

Die Schwägrichenstraße bildet den Übergang von alleinstehenden herrschaftlichen Villen und gehobenen Gründerzeitwohnungen. Am Haus Nr. 11, erbaut von Otto Brückwald 1894/96, befinden sich im Eingangsbereich gleich zwei Erinnerungstafeln: für den Kunsthistoriker Nicolaus Pevsner (1902 – 1983) sowie den Komponisten Günther Raphael (1903 – 1960). Auch wenn dies im Vergleich zu den bereits vorgestellten Gebäuden eine Besonderheit darstellt, so tauchen Pevsners Eltern, die in der ersten Etage wohnten, nicht auf. Im Gegensatz zu ihrem Sohn emigrierte Anna Pevsner (* 1876 in Moskau) nach dem Tod ihres Mannes nicht. Sie arbeitete als Leiterin des Auguste-Schmidt-Hauses und war Mitglied der GEDOK.[25]Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen. Sie musste in das Judenhaus in der heutigen Tschaikowskistraße 30 ziehen und beging aus Angst vor der Deportation am 11.02.1942 Suizid.

In der 1883 benannten Mozartstraße befand sich die Nr. 17 nach 1921 im Besitz von Curt Kroch (* 1884 – 1960 in Frankfurt a.M.), der als Rechtsanwalt und Notar arbeitete. Wohnte er vor 1938 in der ersten Etage, so ist im Adressbuch von 1938 die dritte Etage vermerkt. 1943 erfolgte seine Enteignung. Heute erinnert eine Gedenktafel am Haus an Mary Wigman, die von 1942 bis zu ihrem Umzug nach Westberlin 1949 in der ersten Etage des Hauses wohnte und unterrichtete.[26]Tagebuchnotizen von Mary Wigman, in: Angela Rannow/Hans Michael Richter: Mary Wigman wohnte und arbeitete im Musikviertel, in: Musikviertel, S. 55 – 58, hier S. 57.

Das Haus in der Grassistraße 20 errichtete der Architekt Peter Dybwad 1910/11 für den jüdischen Kaufmann Moritz Schwarzberg, der mit seiner Familie in der ersten Etage wohnte. 1940 war seine Witwe Erna Schwarzberg (* 1873 in Pilsen – 1941 in Leipzig) als Hauseigentümerin im Adressbuch vermerkt. Dort wurde sie gemeinsam mit Lucie Steindorff 27 wegen Verstoßes gegen die Devisenordnung verhaftet und saß vom 14.01. bis 04.02.1941 in Haft.

Ihre Tochter Ilse Schwarzberg (* 1901 in Leipzig – 1943 in Auschwitz) musste Zwangsarbeit verrichten und wohnte im Judenhaus Gustav-Adolf-Straße 7. Ihre ein Jahr ältere Schwester Wilhelmine Schwarzberg, die als Architektin tätig war, starb 1942 in Auschwitz, nachdem sie am 10.01.1938 in die Tschechoslowakei geflohen war.

Vor ihrer Emigration in die Niederlande 1939 wohnte ebenfalls in der Nr. 20 die 1868 in Bielefeld geborene Ida Löwenstein, die am 20.03.1943 in Sobibor verstarb. Der Besitzer mehrerer Textilgroßhandlungen Fedor Lewin (* 1868 in Schlesien) lebte mit seiner Frau Käthie (* 1878 in Hannover, geb. Isenstein) spätestens seit den 1920er Jahren in der zweiten Etage, bevor sie in das Judenhaus Jacobstraße 7 ziehen mussten. Seine Frau nahm sich am 03.09. und er am 05.09.1942 das Leben. Ebenfalls am 05.09.1942 beging die ältere Schwester von Käthi Lewin – Ella Löwenberg, geboren Isenstein (* 1874 in Hannover) – Suizid.

Im Haus Nr. 28 lebte seit 1894 die Familie Nordheimer.[28]Vgl. Andrea Lorz: Schuhhaus H. Nordheimer: Lebensbilder jüdischer Unternehmer in Leipzig, Leipzig 2002. 1933 zog die Witwe Charlotte Nordheimer (* 1862 in Gleicherwiesen) zu ihrer Tochter Clara (* 1894 in Leipzig) in die heutige Erich-Zeigner-Allee 7. Sie war mit Hans Joske (* 1888 in Birnbaum) vom 1900 gegründeten Plagwitzer Kaufhaus Joske verheiratet. Charlotte Nordheimer starb am 29.08.1942 im Judenhaus Färberstraße 11. Clara und ihre Tochter Ruth Joske (* 1927 in Leipzig) wohnten im Judenhaus Jacobstraße 7 und wurden am 13.07.1942 deportiert und gelten seitdem als verschollen.

Von dem Großteil der benannten Schicksale finden sich im öffentlichen Raum keine Erinnerungsspuren. Sie bilden damit nicht nur einen wichtigen Bestandteil unbewältigter Geschichte, sondern stellen auch die Basis für eine detaillierte Untersuchung dar, die neben dem Vergleich mit anderen Stadtvierteln ebenso die sozialen und institutionellen Netzwerke verschiedener Stadtviertel einbeziehen muss, um das einfache Wegschauen zu erschweren.

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