Dieter Daniels :: Kunst als Sendung
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Edward Bellamy

Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Elftes Kapitel

Als wir zu Hause ankamen, war Dr. Leete noch nicht zurückgekehrt, und Frau Leete war nicht zu sehen.
»Lieben Sie Musik, Herr West?« fragte Edith.
Ich versicherte ihr, daß sie nach meiner Meinung das halbe Leben sei.
»Ich sollte wegen meiner Frage um Entschuldigung bitten«, sagte sie. »Es ist nicht eine Frage, wie wir sie heutzutage aneinander richten; aber ich habe gelesen, daß es zu Ihrer Zeit selbst in der gebildeten Klasse Leute gab, die sich aus der Musik nichts machten.«
»Als Entschuldigung hierfür müssen Sie bedenken«, sagte ich, »daß wir einige ziemlich abgeschmackte Arten von Musik hatten.«
»Ja.« sagte sie, »ich weiß es; ich fürchte, sie hätte mir auch nicht gefallen. Würden Sie jetzt etwas von unserer hören wollen, Herr West?«
»Nichts würde mir eine so große Freude machen, als Ihnen zu lauschen«, sagte ich.
»Mir!« rief sie lachend aus. »Glauben Sie, ich wollte Ihnen etwas vorspielen oder vorsingen?«
»Ich hoffte es, gewiß«, erwiderte ich.
Da sie sah, daß ich etwas beschämt war, unterdrückte sie ihre Heiterkeit und klärte mich auf: »Natürlich, wir singen heutzutage alle, da das zur Ausbildung der Stimmen gehört, und einige lernen zu ihrem eigenen Vergnügen ein Instrument spielen; aber die berufsmäßig ausgeübte Musik ist soviel herrlicher und vollkommener als irgendeine unsrer Leistungen, und sie ist so leicht zu haben, wenn wir sie zu hören wünschen, daß wir nicht daran denken, unser Singen oder Spielen überhaupt Musik zu nennen. Alle die wirklich guten Sänger und Spieler stehen im Musik-Staatsdienste, und wir übrigen verhalten uns meistens still. Aber würden Sie wirklich etwas Musik hören wollen?«
Ich versicherte ihr noch einmal, daß dies mein Wunsch sei. »So kommen Sie denn in das Musikzimmer«, sagte sie, und ich folgte ihr in einen Raum, welcher ganz in Holz ausgelegt war, ohne Tapeten, auch der Boden von poliertem Holze. Ich hatte mich auf ganz neue Arten von Instrumenten gefaßt gemacht; aber ich sah nichts in dem Zimmer, was man selbst mit der größten Anstrengung der Einbildungskraft dafür hätte halten können. Es war augenscheinlich, daß mein verdutztes Aussehen Edith höchlichst amüsierte. »Bitte, sehen Sie sich das heutige Programm an«, sagte sie, indem sie mir eine Karte reichte, »und sagen Sie mir, was Sie vorziehen würden. Es ist jetzt fünf Uhr, müssen Sie wissen.«
Die Karte trug das Datum »Den 12. September 2000« und enthielt das größte Konzertprogramm, das ich je gesehen hatte. Es war so mannigfaltig, wie es lang war, und enthielt eine außerordentliche Anzahl von Solos, Duetts und Quartetts für Vokal- und Instrumentalmusik und viele Orchesterkompositionen. Die erstaunliche Liste setzte mich in Verwirrung, bis Ediths rosige Fingerspitze auf eine besondere Abteilung derselben hinwies, die den Vermerk hatte »fünf Uhr nachmittags«. Nun bemerkte ich, daß dieses gewaltige Programm sich auf den ganzen Tag bezog und in vierundzwanzig Abteilungen zerfiel, die den Stunden entsprachen. In der Abteilung »fünf Uhr nachmittags« waren nur wenige Stücke, und ich zeigte auf eine Orgelkomposition, die ich zu wählen wünschte.
»Es freut mich, daß Sie die Orgel lieben«, sagte sie. »Ich glaube, es gibt kaum eine andere Musik, die meiner Stimmung öfter zusagt.«
Sie ließ mich Platz nehmen, durchschnitt das Zimmer und berührte nur, soviel ich sehen konnte, eine oder zwei Schrauben: und sofort ward das Zimmer durch die erhabenen Töne eines Orgelchors erfüllt – erfüllt, nicht durchbraust, denn in irgendeiner Weise war die Stärke des Klanges genau der Größe des Raumes angepaßt worden. Ich lauschte, kaum atmend, bis zum Ende. Solche Musik, mit solcher Vollkommenheit vorgetragen, hatte ich nie zu hören erwartet. »Herrlich!« rief ich aus, als die letzte große Schallwelle langsam verklungen war. »Ein Bach muß diese Orgel gespielt haben. Aber wo ist die Orgel?«
»Bitte, warten Sie noch einen Augenblick«, sagte Edith, »ich möchte Sie gern noch diesen Walzer hören lassen, bevor Sie irgendwelche Fragen, stellen. Ich halte ihn für ganz reizend«, und wie sie das sagte, erfüllten Violinentöne das Zimmer mit dem Zauber einer Sommernacht. Als auch der Walzer geendet hatte, sagte sie: »Bei der Musik ist nicht das mindeste Geheimnisvolle, wie Sie anzunehmen scheinen. Sie stammt nicht von Feen und Elfen, sondern von guten, ehrlichen und außerordentlich geschickten Menschenhänden. Wir haben einfach den Gedanken der Arbeitsersparnis durch Zusammenwirken, wie auf alles andere, so auch auf die Musik übertragen. Es gibt in der Stadt eine Anzahl von Musiksälen, deren Akustik den verschiedenen Arten von Musik vollkommen angepaßt ist. Diese Säle sind durch Telephon mit allen Häusern der Stadt verbunden; deren Bewohner den geringen Beitrag zahlen wollen – und man kann sicher sein, daß es keinen gibt, der das nicht tut. Das Musikkorps, welches zu jedem Saale gehört, ist so zahlreich, daß das Tagesprogramm, obwohl jeder einzelne Musiker und jede Gruppe derselben nur einen kleinen Teil auszuführen hat, doch die vollen vierundzwanzig Stunden ausfüllt. Auf der heutigen Karte werden Sie, wenn Sie sich dieselbe genauer ansehen, je ein Programm von vier solchen Konzerten bemerken, deren jedes eine besondere Musikgattung vertritt und zu gleicher Zeit mit den anderen stattfindet; und jedes der vier Stücke, welche jetzt gespielt werden, können Sie hören, wenn Sie bloß auf den Knopf drücken, dessen Draht Ihr Haus mit dem Saale, in welchem es gespielt wird, in Verbindung setzt. Die Programme sind so zusammengestellt, daß die Stücke, welche in den verschiedenen Sälen gleichzeitig gespielt werden, gewöhnlich eine Auswahl verstatten nicht nur zwischen Instrumental- und Vokalmusik und den verschiedenen Arten von Instrumenten, sondern auch zwischen den einzelnen Motiven, von den ernsten bis zu den heiteren, so daß jeder Geschmack und jede Stimmung befriedigt werden kann.«
»Es scheint mir, Fräulein Leete«, sagte ich, »daß, wenn wir eine Einrichtung hätten ersinnen können, jedem bei sich zu Hause Musik zu verschaffen, vollkommen in ihrer Art, unbeschränkt in ihrer Dauer, jeder angemessen und nach Wunsch beginnend und aufhörend, wir die Grenze menschlicher Glückseligkeit schon erreicht geglaubt und aufgehört hätten, nach weiteren Verbesserungen zu streben.«
»Ich konnte mir wirklich nie recht vorstellen, wie diejenigen unter Ihnen, denen die Musik überhaupt ein Bedürfnis war, das altmodische System, es zu befriedigen, ertragen konnten«, erwiderte Edith. »Eine wirklich hörenswerte Musik muß, denke ich, den Massen völlig unzugänglich und den Meistbegünstigten nur gelegentlich erreichbar gewesen sein, mit großen Unbequemlichkeiten, erstaunlichen Kosten, und dann jedesmal nur während einer kurzen Zeit, welche von jemand anders willkürlich festgesetzt wurde, und in Verbindung mit unerwünschten Umständen aller Art. Ihre Konzerte zum Beispiel und Ihre Opern! Wie schrecklich muß es gewesen sein, um eines oder zweier Musikstücke willen, die Ihnen gefielen, stundenlang dasitzen und Sachen anhören zu müssen, an denen Ihnen nichts gelegen war! Bei Tisch nun kann man die Gänge, an denen einem nichts gelegen ist, vorübergehen lassen. Wer würde jemals, wie hungrig er auch wäre, an einer Mahlzeit teilnehmen, wenn er gezwungen wäre, alles zu essen, was auf die Tafel kommt? Und ich bin sicher, des Menschen Gehör ist ganz so empfindlich wie sein Geschmack. Ich meine, es waren diese Schwierigkeiten, wirklich gute Musik zu erlangen, welche Sie bei sich zu Hause soviel Spielen und Singen von Menschen ertragen ließen, die nur die Anfangsgründe der Kunst besaßen.« »So ist es«, erwiderte ich: »für die meisten von uns gab es nur diese Art von Musik oder gar keine.«
»Ach ja!« seufzte Edith, »wenn man es recht bedenkt, ist es nicht so sonderbar, daß die Menschen in jenen Tagen so allgemein kein Interesse für die Musik hatten. Ich muß sagen, ich würde sie auch verabscheut haben.«
»Habe ich Sie recht verstanden?« fragte ich, »daß dieses Musikprogramm sämtliche vierundzwanzig Stunden ausfüllt? Nach dieser Karte scheint es allerdings so; aber wer wird denn, sagen wir, zwischen Mitternacht und Morgen Musik hören wollen?«
»Oh, viele«, erwiderte Edith. »Wir nutzen alle Stunden aus. Aber selbst wenn die Musik von Mitternacht bis Morgen für niemand anders sorgte, so würde sie es doch für die Schlaflosen, die Kranken und die Sterbenden. Alle unsere Schlafzimmer sind am Kopfende des Bettes mit einer Telephoneinrichtung versehen, wodurch sich jeder, der schlaflos ist, nach Belieben Musik verschaffen kann, wie sie seiner Stimmung entspricht.«
»Befindet sich eine solche Einrichtung auch in dem mir zugewiesenen Zimmer?«
»Ja, gewiß –, und wie gedankenlos, wie sehr gedankenlos von mir, daß es mir nicht einfiel, Ihnen gestern abend davon Mitteilung zu machen! Mein Vater wird Ihnen aber die Einrichtung zeigen, ehe Sie heute zu Bett gehen; und ich bin ganz sicher, mit dem Schalltrichter an Ihrem Ohre werden Sie allen Arten von unheimlichen Gefühlen ein Schnippchen schlagen können, wenn sie je wiederkommen und Sie beunruhigen sollten.«

Edward Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, Leipzig 1890, Elftes Kapitel

Betrifft
Kapitel 2. 2. , Seite 86–87
Sachregister
Dichtung, Musik, Teledistribution, Stereotelefon
Namensregister
Bellamy, Edward
Bildbezüge
Music by Electric Telegraph
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